Das EU-Parlament hat am 27.10.2015 eine Verordnung verabschiedet, die u.a. auch die Netzneutralität regelt. Die neue Verordnung enthält rechtlich verbindliche Vorgaben: Erstmals wird damit die Netzneutralität auch für Internetzugangsanbieter in Deutschland konkret.
Die neue Verordnung besteht allerdings zu einem großen Teil aus Generalklauseln. Die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe werfen viele Fragen auf. Und auch die Systematik der Regelungen ist kompliziert. Zeit für eine erste Detailbetrachtung.
Worum geht es bei der Netzneutralität?
Bei der Netzneutralität geht es um den diskriminierungsfreien Transport von Datenpaketen. Die Verfechter des Konzepts der Netzneutralität fordern, dass die Netzbetreiber möglichst „neutral“ bleiben sollen, d.h. alle Datenpakete gleichbehandeln. Die Netzneutralität betrifft also z.B. die Frage, ob ein Netzbetreiber bestimmte Daten während Spitzenlastzeiten „ausbremsen“ darf (Traffic Management) oder ob er bestimmen darf, welche Endgeräte sich mit einem Netz verbinden.
Die wichtigste und umstrittenste Frage ist, ob ein Internet-Zugangsanbieter bestimmte Inhalte bei der Durchleitung privilegieren darf. Die Internetzugangsanbieter wollen dies nutzen, um sog. „Spezialdienste“ zu vermarkten. Bei einem solchen Spezialdienst zahlt ein Unternehmen (z.B. ein Anbieter von Videostreaming) an den Internetzugangsanbieter dafür, dass dieser die Daten besonders schnell oder besonders ausfallsicher zu seinen Endkunden durchleitet. Für das Unternehmen bedeutet dies einen Wettbewerbsvorteil, weil das eigene Angebot aus Sicht der Endkunden eine höhere Qualität hat. Und einige Dienste, die über das Internet erbracht werden könnten, setzen eine fest definierte Mindestqualität sogar zwingend voraus.
Die Regulierung der Netzneutralität durch das neue EU-Recht
Die neue Verordnung regelt die Netzneutralität gemeinsam mit neuen Vorgaben zur Senkung der Preise für Auslandsroaming. Dass die beiden Themen in einer Verordnung behandelt werden, hat keine inhaltlichen, sondern politische Gründe (siehe hier zur Vorgeschichte). Inhaltlich haben Netzneutralität und Roaming nichts miteinander zu tun (abgesehen davon, dass sie beide dem Telekommunikationsrecht unterfallen).
Die Verordnung regelt die Netzneutralität erstmals auf EU-Ebene grundlegend und umfassend. Sie geht damit über bisherige Vorgaben des Europarechts weit hinaus. Zuvor hatte das Europarecht (insb. Art. 8 Abs. 4 lit. g Rahmenrichtlinie und Art. 22 Abs. 3 Universaldienstrichtlinie) die Netzneutralität nur sehr abstrakt behandelt. In Deutschland gab es deshalb bisher keine praxisrelevante gesetzliche Regelung.
Die EU-Verordnung ändert dies; sie enthält nun sehr konkrete Regelungen sowohl zu den Pflichten der Internetzugangsanbieter (Art. 3) als auch zur Durchführung und Durchsetzung durch die Regulierungsbehörden (Art. 5). Außerdem ergänzt sie betreffend der Netzneutralität neue Verbraucherschutzregelungen (Art. 4).
Die Verordnung gilt ab dem Moment ihrer Geltungskraft unmittelbar (Art. 288 AEUV). Das heißt, sie muss (anders als Richtlinien) nicht mehr umgesetzt werden, sondern sie bindet wie ein nationales Gesetz unmittelbar alle Behörden, Gerichte und Bürger.
Wer ist von der Verordnung betroffen?
Schon bei der Grundfrage, was Netzneutralität eigentlich ist, waren bisher viele Fragen strittig. Was bedeutet eigentlich „Neutralität“? Und in welchen „Netzen“ soll die Neutralitätspflicht eigentlich gelten? Die Macher der neuen Regelung hatten diese Fragen zu beantworten.
Die Verordnung wählt einen eher knappen Anwendungsbereich. Das zeigt sich einerseits beim personellen Anwendungsbereich (wer wird verpflichtet), andererseits beim sachlichen Anwendungsbereich (wozu verpflichten die neuen Regeln).
Zunächst zum personellen Anwendungsbereich:
Die neue Regelung gilt nicht für jede Art von Telekommunikationsnetz, sondern ausschließlich für „Internetzugangsdienste“. Diesen Begriff definiert die Verordnung als „öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste, die unabhängig von der verwendeten Netztechnologie und den verwendeten Endgeräten Zugang zum Internet und somit Verbindungen zu praktisch allen Anschlusspunkten des Internets vermitteln“ (Art. 2 Nr. 2).
Dies bedeutet, dass Telekommunikationsdiensteanbieter, soweit sie keinen Zugang zum Internet vermitteln, nicht den Netzneutralitätspflichten unterfallen. Das dürfte z.B. für geschlossene Unternehmensnetzwerke oder für die klassische Telefonie gelten.
Ein „Internetzugang“ im Sinne dieser Vorschrift ist also zum einen das klassische „Internet Service Providing“, wie es in Deutschland an Verbraucher angeboten wird. Unter den Begriff fallen aber auch die Internetzugänge, die eher für Content-Anbieter angeboten werden, z.B. für Webseitenbetreiber. Auch Hosting-Dienstleister und insbesondere Content Delivery Networks gehören also zu den Internetzugangsanbietern, wenn die Anbindung an das Internet (wie in der Praxis fast immer) zum Service gehört und das Diensteangebot „öffentlich zugänglich“ ist. Relevante Streitfälle dürften aber vor allem bei den Netzbetreibern entstehen, die den Zugang zu vielen Endkunden („Eyeballs“) kontrollieren.
Die Neutralitätsvorgabe gilt nur für die „Bereitstellung von Internetzugangsdiensten“ (Erwägungsgrund 1). Dies bezieht sich also nicht auf die Übermittlungsleistungen, die sich TK-Diensteanbieter auf Vorleistungsebene untereinander anbieten, z.B. beim Peering oder beim Transit. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ein Unternehmen die Netzneutralitätsvorgabe indirekt verletzt, indem es den Zugang fremder Netzbetreiber zum eigenen Netz gezielt verknappt, um auf diese Weise den Absatz eigener „Spezialdienste“ zu fördern (dazu noch unten; siehe z.B. hier zur Auseinandersetzung Telekom/Hetzner).
Die Netzneutralitätspflicht nach der neuen EU-Verordnung
Auch die Frage, was eigentlich unter „Neutralität“ zu verstehen ist, wird vom EU-Recht beantwortet. Art. 3 Absatz 1 enthält zunächst eine Art Generalklausel:
„(1) Endnutzer haben das Recht, über ihren Internetzugangsdienst, unabhängig vom Standort des Endnutzers oder des Anbieters und unabhängig von Standort, Ursprung oder Bestimmungsort der Informationen, Inhalte, Anwendungen oder Dienste, Informationen und Inhalte abzurufen und zu verbreiten, Anwendungen und Dienste zu nutzen und bereitzustellen und Endgeräte ihrer Wahl zu nutzen. Dieser Absatz lässt das Unionsrecht und das mit dem Unionsrecht im Einklang stehende nationale Recht in Bezug auf die Rechtmäßigkeit von Inhalten, Anwendungen oder Diensten unberührt.“
Und Art. 3 Absatz 3 Unterabsatz 1 konkretisiert das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Absatz 1 durch speziellere Verbote:
„(3) Anbieter von Internetzugangsdiensten behandeln den gesamten Verkehr bei der Erbringung von Internetzugangsdiensten gleich, ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten.“
In Absatz 1 ist die Netzneutralität als Recht der Endnutzer formuliert, in Absatz 3 als an die Zugangsprovider gerichtetes Verbot. In beiden Fällen läuft es aber darauf hinaus, dass Inhalteanbieter grundsätzlich beim Transport von Datenpaketen nicht nach bestimmten Kriterien diskriminiert werden dürfen. Diese Kriterien ergeben sich im Einzelnen aus dem Wortlaut der Absätze 1 und 3. Da diese kompliziert formuliert sind, sollen die einzelnen Diskriminierungsverbote im Folgenden einzeln genannt werden.
Verboten ist die Diskriminierung nach…
Jedes dieser Diskriminierungsverbote wäre schon komplex, wenn man es nur für sich allein betrachten würde. Zusammengenommen bilden die Verbote aber eine regelrechte Sphäre von sich inhaltlich überlappenden Einzelverboten. Das führt dazu, dass sich nur schwer ein Eingriff in den Datenverkehr denken lässt, der nicht mit irgendeinem der genannten Diskriminierungsverbote kollidiert. Im Ergebnis hat man es eher mit einer allgemeinen Pflicht zur Gleichbehandlung von Datenpaketen zu tun.
Trotzdem wird über die Reichweite der einzelnen Verbote noch zu diskutieren sein (dazu noch unten). Beispielsweise ist es eine spannende Frage, wie die Diskussion zum sog. Routerzwang mit dem auf Endgeräte bezogenen Diskriminierungsverbot zusammenpasst. Eine kürzlich vom Bundestag verabschiedete Änderung des FTEG (BT-Drs.: 18/6280) löst hier einige Bedenken auf, jedoch nicht alle.
Absatz 2: Ausweitung des Verbots auf „Vereinbarungen“
Zwischen Abs. 1 und Abs. 3 steht Absatz 2. Dieser steht dort etwas als Fremdkörper, denn er bezieht sich anders als die vorgenannten „Grundregeln“ nicht auf jedes Verhalten des Internetzugangsanbieters, sondern lediglich auf Endkunden und mit diesen geschlossene „Vereinbarungen“. Die Bestimmung im Volltext:
„(2) Vereinbarungen zwischen Anbietern von Internetzugangsdiensten und Endnutzern über die gewerblichen und technischen Bedingungen und die Merkmale von Internetzugangsdiensten wie Preis, Datenvolumina oder Geschwindigkeit sowie die Geschäftspraxis der Anbieter von Internetzugangsdiensten dürfen die Ausübung der Rechte der Endnutzer gemäß Absatz 1 nicht einschränken.“
Diese Regelung betrifft Gestaltung des Produktes, das dem Endkunden angeboten wird; auf rechtlicher Ebene also die Leistungsbeschreibungen und Geschäftsbedingungen des Anbieters.
Der EU-Gesetzgeber hat hier erkennbar im Blick, dass ein Internet-Zugangsanbieter bestimmte Inhalteangebote bei der Gestaltung seiner Tarifstruktur begünstigen kann. Bei diesem sog. „Zero Rating“ werden bestimmte Angebote auf volumenbezogene Drosselungen nicht angerechnet.
Ist Zero Rating zukünftig untersagt? Die Verordnung bleibt hier undeutlich: Die Vereinbarungen mit den Endkunden dürfen gemäß Absatz 1 die Rechte der Internetnutzer nicht “einschränken”. Aber was heißt das? Jedenfalls nicht, dass jede Begünstigung eines bestimmten Content-Angebotes untersagt ist. Das ergibt sich insbesondere aus einer systematischen Betrachtung: Denn nach dem klaren Wortlaut gilt Absatz 2 nur für Absatz 1 und damit nur für „Rechte der Endnutzer“. Die als gesetzliches Verbot formulierten speziellen Diskriminierungsverbote des Absatzes 3 sind damit nicht erfasst.
Die Einschränkungen der Netzneutralität
Die Verordnung ist von der kritischen Öffentlichkeit weniger als Netzneutralitätsregelung aufgenommen worden, sondern eher als „Abschaffung“ der Netzneutralität. Dies liegt daran, dass die Verordnung vom Grundprinzip der Netzneutralität in zwei Fällen Abweichungen zulässt, nämlich in Art. 3 Abs. 3 für Verkehrsmanagement und in Art. 3 Abs. 5 für die sog. Spezialdienste.
Die Zulässigkeit von Verkehrsmanagement
Die Regelung zum Verkehrsmanagement findet sich in Art. 3 Absatz 3, Unterabsätze 2 und 3:
„Unterabsatz 1 hindert die Anbieter von Internetzugangsdiensten nicht daran, angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen anzuwenden. Damit derartige Maßnahmen als angemessen gelten, müssen sie transparent, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig sein und dürfen nicht auf kommerziellen Erwägungen, sondern auf objektiv unterschiedlichen technischen Anforderungen an die Dienstqualität bestimmter Datenverkehrskategorien beruhen. Mit diesen Maßnahmen darf nicht der konkrete Inhalt überwacht werden, und sie dürfen nicht länger als erforderlich aufrechterhalten werden.
Anbieter von Internetzugangsdiensten wenden keine Verkehrsmanagementmaßnahmen an, die über die Maßnahmen gemäß Unterabsatz 2 hinausgehen; insbesondere dürfen sie nicht bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste – oder bestimmte Kategorien von diesen – blockieren, verlangsamen, verändern, einschränken, stören, verschlechtern oder diskriminieren, außer soweit und solange es erforderlich ist, um
a) Gesetzgebungsakten der Union oder mit dem Unionsrecht im Einklang stehenden nationalen Rechtsvorschriften, denen der Internetzugangsanbieter unterliegt, oder mit dem Unionsrecht im Einklang stehenden Maßnahmen zur Umsetzung dieser Gesetzgebungsakte der Union oder dieser nationalen Rechtsvorschriften zu entsprechen, einschließlich Verfügungen von Gerichten oder Behörden, die über die entsprechenden Befugnisse verfügen;
b) die Integrität und Sicherheit des Netzes, der über dieses Netz erbrachten Dienste und der Endgeräte der Endnutzer zu wahren;
c) eine drohende Netzüberlastung zu verhindern oder die Auswirkungen einer außergewöhnlichen oder vorübergehenden Netzüberlastung abzumildern, sofern gleichwertige Verkehrsarten gleich behandelt werden.“
Im Kern sagt dieser Teil der Bestimmung, dass die Internetzugangs-Anbieter auch weiterhin Verkehrsmanagement in ihren Netzen betreiben dürfen. Es gibt aber Ausnahmen, die detailgenau geregelt sind. Der folgende Flowchart zeigt, wie die einzelnen Tatbestandsmerkmale ineinandergreifen:
Verkehrsmanagement war auch schon vor Erlass der Netzneutralitätsverordnung üblich, insbesondere zur Abwehr von Überlastungen zu Spitzenlastzeiten, aber auch zur Abwehr von technischen Bedrohungen (z.B. bei DDOS-Angriffen). Auch jetzt wird Traffic Management nicht untersagt. Die Verordnung schränkt die Möglichkeiten der Diensteanbieter aber ein.
Besonders relevant dürfte die Bestimmung werden, die dem Internet-Zugangsanbieter Traffic Management untersagt, wenn er aus „kommerziellen Erwägungen” handelt. Denn letztlich handeln alle Zugangsanbieter kommerziell motiviert, und selten lässt sich eine bestimmte Handlung monokausal auf eine bestimmte Ursache zurückführen. Insofern wird es eine spannende Frage, wie die Regulierungsbehörde mit der Frage umgehen, wer die „nicht-kommerzielle“ Motivation beweisen muss und wie dies geschehen soll.
Eine zu Auseinandersetzungen geradezu einladende Formulierung ist auch die Beschränkung von Traffic Management auf das jeweils Erforderliche bzw. auf “außergewöhnliche“ und „vorübergehende” Netzüberlastungen. Auch was dies bedeutet, wird die Praxis noch zu klären haben. Die Verordnung selbst definiert die relevanten Begriffe jedenfalls nicht.
Die Zulässigkeit von Spezialdiensten
Der Teil der neuen Regelung, die während ihres Entstehungsprozesses politisch am stärksten umstritten war, ist die Erlaubnis der sog. Spezialdienste in Absatz 5. Die Regelung lautet wie folgt:
„(5) Den Anbietern öffentlicher elektronischer Kommunikation, einschließlich der Internetzugangsanbieter und der Anbieter von Inhalten, Anwendungen und Diensten, steht es frei, andere Dienste, die keine Internetzugangsdienste sind, anzubieten, die für bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste oder eine Kombination derselben optimiert sind, wenn die Optimierung erforderlich ist, um den Anforderungen der Inhalte, Anwendungen oder Dienste an ein bestimmtes Qualitätsniveau zu genügen.
Die Anbieter öffentlicher elektronischer Kommunikation einschließlich der Internetzugangsanbieter dürfen diese anderen Dienste nur dann anbieten oder ermöglichen, wenn die Netzkapazität ausreicht, um sie zusätzlich zu den bereitgestellten Internetzugangsdiensten zu erbringen. Diese anderen Dienste dürfen nicht als Ersatz für Internetzugangsdienste nutzbar sein oder angeboten werden und dürfen nicht zu Nachteilen bei der Verfügbarkeit oder der allgemeinen Qualität der Internetzugangsdienste für Endnutzer führen.“
Zunächst zur Ausgangsfrage: Worum geht es eigentlich? Die Verordnung vermeidet hier den Begriff „Spezialdienste“. Stattdessen verwendet sie eine abstrakte Beschreibung: Die Ausnahme gilt für „Dienste, die keine Internetzugangsdienste sind, die für bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste oder eine Kombination derselben optimiert sind”. Aber was heißt das? Die Beschreibung wirkt auf den ersten Blick eher schwer verständlich.
Der wahrscheinlich wichtigste Begriff für die Auslegung ist der Begriff der Optimierung („Dienste, […] die für bestimmte Inhalte […] optimiert sind“). Diesen Optimierungsbegriff kann man auch als Gegenbegriff zur „Neutralität“ interpretieren: Der Teil des Internetzugangsangebotes, der nicht den Neutralitäts-Kriterien der Absätze 1 bis 3 entspricht, ist für einen bestimmten Zweck „optimiert” und unterfällt (wenn die Bedingungen des Absatz 5 eingehalten sind) der Ausnahmeklausel für Spezialdienste.
Nähert man sich dieser Definition methodisch, fällt außerdem auf, dass Art. 3 Abs. 5 anders als die übrigen Bestimmungen zur Netzneutralität drei Anbietertypen adressiert. Neben dem „Internetzugangsanbieter“ richtet sich diese Bestimmung auch an alle anderen „Anbieter elektronischer Kommunikation“ und die „Anbieter von Inhalten, Anwendungen und Diensten“. Der Begriff des „Anbieters öffentlicher Kommunikation“ ist in Art. 2 der Verordnung legaldefiniert, er ist deutlich weiter als der des Internetzugangsanbieters. „Anbieter elektronischer Kommunikation“ ist nach dieser Definition jedes „Unternehmen, das öffentliche Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste bereitstellt“.
Dass die Verordnung die Anbieter elektronischer Kommunikation und die Content-Anbieter zum Angebot von Spezialdiensten ausdrücklich ermächtigt, ist bemerkenswert. Denn eine Regelung, die es ihnen verbietet, gibt es (jedenfalls im EU-Recht) nicht.
Die eingeschränkte Zulässigkeit von Spezialdiensten
Die neue Verordnung schränkt das Recht der Internetzugangsanbieter, solche Spezialdienste zu erbringen, ein. Die Zugangsanbieter dürfen vom Grundprinzip der Netzneutralität nur noch abweichen, wenn drei Kriterien erfüllt sind:
Alle drei dieser Rückausnahmen sind sehr ungenau formuliert. Wann ist verbleibende Netzkapazität “ausreichend”? Was hat man sich unter einem “Ersatz” für einen Internetzugangsdienst vorzustellen? Und wann erleiden Endnutzer bzw. die von ihnen genutzten Internetzugangsdienste “Nachteile”, speziell bezüglich ihrer “allgemeinen Qualität”? Es handelt sich um Generalklauseln, deren Bedeutung sich erst in der konkreten Regulierungspraxis ergeben wird.
Im Ergebnis wirken diese Vorgaben jedenfalls ähnlich wie die medienrechtlichen „Must Carry“-Pflichten (u.a. § 52b RStV, Art. 31 Universaldienstrichtlinie): Ein Internetzugangsanbieter, der Spezialdienste vermarktet, muss auf einem bestimmten Teil seiner Kapazität einen „neutralen“ Internetzugang anbieten. Die wesentliche Frage, wie viel Kapazität für diesen Internetzugang bestehen und verbleiben muss, wird von der Verordnung aber nur ansatzweise beantwortet. Sie legt lediglich fest, dass „Nachteile“ für den normalen Internetzugang zu vermeiden sind. Was das bedeutet, wird erst die Praxis konkretisieren müssen.
Wer wird die Regeln konkretisieren und durchsetzen?
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die gesamte Regelung der Netzneutralität von unbestimmten Rechtsbegriffen durchzogen ist. Kaum ein Teil der Vorschrift ist eindeutig zweifelsfrei, kaum ein praktischer Fall wird sich ausschließlich auf Basis des Wortlauts lösen lassen. Für alle Beteiligten bedeutet dies Rechtsunsicherheit.
Die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Netzneutralitätsregel liegt gem. Art. 5 der Verordnung bei den “nationalen Regulierungsbehörden”. Der Begriff bezieht sich auf Art. 2 g) der Rahmenrichtlinie (PDF, vgl. Art. 2 Satz 1 der Verordnung). “Nationale Regulierungsbehörden” sind demnach die speziellen Aufsichtsbehörden für den Telekommunikationssektor. Somit ist auch für Deutschland die Bundesnetzagentur zuständig. Auf den ersten Blick ist dies wenig überraschend, aber aus Sicht der Landesmedienanstalten, die Netzneutralität als Teil des Medienrechts betrachten, ein Problem.
Die Bundesnetzagentur hat nach Art. 5 Abs. 1 den folgenden Auftrag:
„Die nationalen Regulierungsbehörden überwachen genau und stellen sicher, dass Artikel 3 und 4 des vorliegenden Artikels eingehalten werden, und fördern die kontinuierliche Verfügbarkeit von nichtdiskriminierenden Internetzugangsdiensten auf einem Qualitätsniveau, das den Fortschritt der Technik widerspiegelt. Für diese Zwecke können die nationalen Regulierungsbehörden Anforderungen an technische Merkmale, Mindestanforderungen an die Dienstqualität und sonstige geeignete und erforderliche Maßnahmen für einen oder mehrere Anbieter öffentlicher elektronischer Kommunikation, einschließlich der Anbieter von Internetzugangsdiensten, vorschreiben.“
Um diesen Auftrag umsetzen zu können, verfügt die BNetzA u.a. über einen speziellen Auskunftsanspruch (Abs. 2). Art. 5 Abs. 3 enthält außerdem eine Aufgabenzuweisung an GEREK. Diese Koordinationsinstanz der EU-Telekommunikationsregulierer soll die Umsetzung der Netzneutralitätsregeln durch die Erstellung von “Leitlinien” fördern.
In Art. 6 ist festgelegt, dass die Mitgliedsstaaten effektive und „abschreckende” Sanktionen vorsehen müssen, um die Netzneutralitätsregeln auch durchsetzbar zu machen. Um dem gerecht zu werden, wird der deutsche Gesetzgeber vermutlich die Bußgeldtatbestände in § 149 TKG erweitern.
Der zivilrechtliche Ansatz: Transparenzregulierung
Neben dem öffentlich-rechtlichen Ansatz, d.h. der Beauftragung der Regulierungsbehörden, wählt die Verordnung ein zweites Regulierungsinstrument: Durch Transparenzvorgaben sollen die Verbraucher ermächtigt werden, selbst zu entscheiden, wie „neutral“ ihr Internetzugang sein soll. Zu diesem Zweck werden die Internetzugangsanbieter verpflichtet, sehr detailliert über die Eigenschaften des Internetzugangs zu informieren (Art. 4 Abs. 1 der Verordnung).
Einerseits betrifft dies die Geschwindigkeit des angebotenen Internetzugangs. Hier sollen die Netzbetreiber die von ihnen angebotene Up- und Downloadkapazität nach vier Kategorien benennen:
Andererseits müssen die Anbieter sehr genau beschreiben, auf welche Weise sie in die Netzneutralität eingreifen (Art. 4 Abs. 1 a) bis d)). Die Verbraucher müssen sogar auf die ihnen zustehenden Rechtsbehelfe hingewiesen werden.
Die Internetzugangsanbieter werden außerdem verpflichtet, ihr Beschwerdemanagement auf Anfragen wegen Netzneutralitätsthemen vorzubereiten (Art. 4 Abs. 2); eine „erhebliche, kontinuierliche oder regelmäßig wiederkehrende Abweichung“ der angebotenen Leistung von den Transparenzangaben gilt als „Auslösung“ von Rechtsbehelfen, die den Verbrauchern nach dem jeweiligen nationalen Recht zustehen.
Wie geht´s jetzt weiter?
Die Verordnung zur Netzneutralität ist am 26.11.2015 im EU-Amtsblatt verkündet worden und drei Tage später in Kraft getreten (Art. 10 Abs. 1). Ihre Wirkung in Bezug auf die Netzneutralität erhält sie aber erst mit dem 30. April 2016 (Art. 10 Abs. 2). Ab diesem Zeitpunkt sind die netzneutralitätsbezogenen Regeln der Verordnung einzuhalten und können von der Bundesnetzagentur auch durchgesetzt werden.
Eine Ausnahme von diesem Starttermin gibt es theoretisch für Staaten, die bereits Regeln zur Gewährleistung von Netzneutralität erlassen haben. Diese Staaten können ihre bereits bestehenden Regeln noch bis Jahresende 2016 beibehalten. Gezwungen sind sie aber hierzu nicht. Die Bundesrepublik Deutschland kann die Ausnahme ohnehin nicht nutzen, weil der deutsche Gesetzgeber eigene Regeln zur Netzneutralität nie eingeführt hat.
Für Internet-Zugangsanbieter, aber auch für die Regulierungsbehörden werden die kommenden Monate einiges an Arbeit mit sich bringen. Die ungenaue Formulierung vieler Klauseln der Verordnung bietet mehr als genug Anlass für Unsicherheit und Streit. Insofern wird es vor allem darauf ankommen, wie die nationalen Regulierungsbehörden und GEREK ihre Kompetenzen nutzen werden, um die eher ungenauen Netzneutralitäts-Generalklauseln in Form eigener Regelungsakte zu konkretisieren.
Diesbezüglich sieht die Verordnung für die BNetzA die Möglichkeit vor, eigene Konkretisierungsvorschriften zu erlassen (Art. 5 Abs. 1). Verpflichtet ist die Bundesnetzagentur hierzu aber nicht. Eine konkrete Verpflichtung besteht aber für GEREK, der die „Interessenträger“ anhören soll und auf dieser Basis bis zum 30. August 2016 eigene „Leitlinien“ veröffentlichen soll (Art. 5 Abs. 3). Es ist zu erwarten, dass in vielen Punkten erst diese Leitlinien Klarheit bringen werden.