Spätestens seit der Beanstandung des Streaming-Kanals „PietSmietTV“ durch die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) im Jahr 2017 ist die Zulassungspflicht für webbasierte lineare Streamingangebote in den Fokus der rechtlichen und rechtspolitischen Diskussion gerückt. Der kommende Medienstaatsvertrag (MStV) enthält deshalb neue Regeln zur Zulassungspflicht bzw. -freiheit. Vor diesem Hintergrund hat sich Dr. Marco Holtz von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb) für ein Interview mit Telemedicus-Autor Dr. Jens Milker zur Verfügung gestellt, um wesentliche Fragen zur Zulassungspflicht von medialen Angeboten zu beantworten.
Generell unterscheidet der noch aktuelle Rundfunkstaatsvertrag (RStV) zwischen grundsätzlich zulassungspflichtigem Rundfunk (vgl. zum Begriff § 2 Abs. 1 Sätze 1 und 2 RStV) und zulassungsfreien Telemedien (§ 2 Abs. 1 Satz 3 RStV). Mit dem im April 2020 durch die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder unterzeichneten Medienstaatsvertrag (MStV) soll nun eine neue rechtliche Grundlage für die Medienaufsicht geschaffen und eine „Antwort […] auf zentrale Fragen und Herausforderungen einer digitalisierten Medienwelt“ gegeben werden. Zwar steht die Ratifizierung durch ein Landesparlament noch aus, es ist allerdings mit einem baldigen Inkrafttreten zu rechnen. Im Hinblick auf die Zulassungspflicht/-freiheit einzelner medialer Angebote behält auch der MStV die Unterscheidung zwischen Rundfunk und Telemedien dem Grunde nach bei.
Herr Dr. Holtz, können Sie kurz im Überblick zusammenfassen, was sich mit dem Medienstaatsvertrag hinsichtlich des Rundfunkbegriffs und der damit zusammenhängenden Zulassungspflicht ändern wird?
Ziel des Gesetzgebers ist es, das Zulassungsrecht zu liberalisieren. Der Rundfunkbegriff selbst bleibt im Wesentlichen unverändert. Künftig werden alle Rundfunkprogramme, die nur eine begrenzte Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung haben, von der Zulassungspflicht ausgenommen. Dies gilt nicht nur für Internet-Live-Streams, sondern auch für TV- und Radioangebote, die „klassisch“ über Kabel oder Antenne verbreitet werden.
Was versteht man konkret unter dem Begriff „Bagatellrundfunk“?
Statt des Begriffs „Bagatellrundfunk“ bevorzugen die Medienanstalten – wie auch der Staatsvertragsgeber – den Begriff „zulassungsfreier Rundfunk“, um nicht den falschen Eindruck eines „Rundfunks zweiter Klasse“ zu erwecken. Ob ein Rundfunkprogramm zulassungsfrei ist, beurteilt sich nach qualitativen, also inhaltsbezogenen und nach quantitativen, also verbreitungsbezogenen Kriterien. Die genauen Voraussetzungen werden die Medienanstalten in einer Satzung regeln, die voraussichtlich im Frühjahr in Kraft tritt. Ergänzend werden die Medienanstalten voraussichtlich FAQ oder eine Checkliste bereitstellen.
In § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MStV ist eine Ausnahme von der Zulassungspflicht für Rundfunkprogramme, die nur geringe Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung entfalten, vorgesehen. Welche Kriterien sind für die Bestimmung dieser Meinungsrelevanz heranzuziehen? Können Sie konkrete Beispiele zur Abgrenzung nennen?
Nach derzeitigem Diskussionsstand werden für die Beurteilung der Meinungsrelevanz voraussichtlich folgende Kriterien maßgeblich sein:
- der Grad der journalistisch-redaktionellen Gestaltung,
- der Grad der visuellen und/oder akustischen Gestaltung des Programms,
- die thematische Zusammensetzung,
- der Grad der vom Anbieter eröffneten Möglichkeiten einer Interaktion mit und zwischen den Nutzern,
- die Häufigkeit und die Dauer der Ausstrahlung.
Eine nur geringe Meinungsbildungsrelevanz kann – immer abhängig vom Einzelfall – zum Beispiel vorliegen, wenn ein Programm ausschließlich oder klar überwiegend Belange der persönlichen Lebensgestaltung betrifft oder den Abverkauf von Waren oder Dienstleistungen bezweckt. Dies kann zum Beispiel bei Streams zu Heimwerker- oder Handarbeitsthemen der Fall sein, aber auch bei reinen Verkaufskanälen und – je nach Ausrichtung und Gestaltung – Let‘s Plays.
Der Medienstaatsvertrag sieht darüber hinaus in § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 eine solche Ausnahme für Rundfunkprogramme vor, die im Durchschnitt von sechs Monaten weniger als 20.000 gleichzeitige Nutzer erreichen oder in ihrer prognostizierten Entwicklung erreichen werden. Können Sie dieses Merkmal etwas näher konkretisieren? Inwieweit kann eine Kontrolle dieser Voraussetzungen von der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt überhaupt tatsächlich durchgeführt werden?
Nach derzeitigem Diskussionsstand werden die Medienanstalten zur Bestimmung der Anzahl gleichzeitiger Nutzer im Bereich der internetbasierten Rundfunkübertragung auf die sogenannten „average concurrent user“ abstellen. Im Bereich der klassischen Rundfunkübertragung über Terrestrik, Satellit und Kabel gibt es mangels Rückkanal keine vergleichbaren Reichweitendaten. Hier müssen die Landesmedienanstalten auf eine Gesamtschau der zur Verfügung stehenden Reichweitenerhebungen rekurrieren. Die Medienanstalten haben keine (technischen) Möglichkeiten für eigene Messungen, sondern müssen auf die Zahlen der Anbieter und Plattformen zurückgreifen. In dieser Hinsicht sind die Anbieter (und auch die Plattformen) auskunftspflichtig und müssen ihre Angaben ggf. glaubhaft machen.
Ist die generelle Beibehaltung der Unterscheidung von (grds. zulassungspflichtigen) linearen und (zulassungsfreien) nicht-linearen Angeboten – auch im Hinblick auf die fortschreitende Konvergenz der Angebotsformen – aus Ihrer Sicht noch zeitgemäß?
Die Landesmedienanstalten fordern schon seit langem, die Zulassungspflicht durch qualifizierte Anzeigepflicht zu ersetzen. Um Rundfunk zu veranstalten, wäre dann keine vorherige Zulassung mehr nötig. Die nun vorgenommene Liberalisierung des Zulassungsrechts ist ein erster Schritt in diese Richtung. Ob weitere folgen, muss der Staatsvertragsgeber entscheiden.
In der Sache „PietSmietTV“ ist die zuständige Landesmedienanstalt durch eine Beschwerde auf den Kanal aufmerksam geworden. Ergreifen die Landesmedienanstalten diesbezüglich auch eigeninitiativ Ermittlungsmaßnahmen (z.B. auf Twitch oder YouTube)?
Ja. Wie schon bisher, beobachten die Landesmedienanstalten die Live-Streams auf den bekannten Plattformen. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine Zulassungspflicht besteht, nehmen die Landesmedienanstalten zunächst niedrigschwellig den Kontakt mit dem Anbieter auf, um auf eine rechtskonforme Ausgestaltung hinzuwirken. Erst wenn dies ergebnislos verläuft, wird ein förmliches Verwaltungsverfahren eingeleitet.
Was würden Sie abschließend insbesondere Anbietern von Livestreams, die sich im Hinblick auf eine Zulassungspflicht unsicher sind, raten, um sich rechtskonform zu verhalten?
Jeder Anbieter kann sich mit konkreten Fragen zu seinem Angebot an die Landesmedienanstalten wenden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, sich die Zulassungsfreiheit durch eine sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigung förmlich bestätigen zu lassen.
Vielen Dank für das Interview!
Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass mit dem MStV zunächst dem Grunde nach keine wesentliche Änderung der Begrifflichkeiten (Rundfunk/Telemedien) einhergeht. Gleichzeitig sind in § 54 MStV für Rundfunkangebote nunmehr zusätzliche Ausnahmen von der Zulassungspflicht vorgesehen. Dabei kann die Auslegung der einzelnen Kriterien, die zur Zulassungsfreiheit führen, mit Unsicherheiten behaftet sein. Selbst wenn sie durch eine Satzung konkretisiert werden. Dem kann aus Sicht der Anbieter aber u.a. mit der Beantragung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung entgegengewirkt werden. Sie müssen im Zweifelsfall insoweit nicht in einer „Grauzone“ verbleiben. Letztlich dürfte in Anbetracht der dargestellten Position der Landesmedienanstalten zur Grundkonzeption eine Reformdiskussion auch in Zukunft nicht abreißen.