Telemedicus

, von

Was sagt die Rechtsprechung zu Chilling Effects?

Vor einigen Tagen habe ich auf Telemedicus eine Zusammenstellung verschiedener Gerichtsurteile veröffentlicht, die direkt oder indirekt auf die „Chilling Effects” Bezug nehmen. Mit diesem Artikel will ich nun einige Gedanken zusammenfassen, die sich aus dieser Rechtssprechung ableiten lassen.

1. Für die Chilling Effects gibt es viele Beschreibungen.

Eine Auswertung der Rechtsprechung zeigt: Der Zusammenhang der Einschüchterung lässt sich auf verschiedene Weisen beschreiben. Mal ist die Rede von beeinträchtigenden Auswirkungen (BVerfGE 73, 118, 183; BVerfGE 100, 313, 381), mal von hemmenden (BVerfGE 65, 1, 43; BVerfG NJW 1996, 310, 310 f.; BVerfGE 115, 166, 188), beengenden (BVerfGE 7, 198, 211), einschüchternden (BVerfGE 43, 130, 136; BVerfG NJW 1996, 310; BVerfG v. 25. Oktober 2007, Az. 1 BvR 943/02, Rn. 38), abschreckenden (BVerfGE 93, 266, 292; BVerfGE 99, 185, 197; BVerfGE 113, 29, 46; BVerfGE 115, 166, 188), erschwerenden und abhaltenden (BVerfG v. 25.10.2007, Az. 1 BvR 943/02, Rn. 34 ff.) oder einfach nur „negativen Wirkungen auf die generelle Ausübung” eines Grundrechts (BVerfGE 43, 130, 136; BVerfGE 114, 339, 349). Das BVerfG spricht in einigen Entscheidungen auch von Auswirkungen auf die Unbefangenheit des Grundrechtsgebrauchs (BVerfGE 120, 378, 402; ähnlich BVerfGE 100, 313, 381; BVerfGE 109, 279, 354 f.). In einigen anderen Fällen sprechen die Gerichte von „Selbstzensur” (BVerfGE 73, 118, 183; ähnlich EGMR v. 3.12.2013, App. no. 64520/10, Rn. 73 f.). Gerade die neue Rechtsprechung des BVerfG verwendet auch den Begriff „Einschüchterungseffekt” (BVerfGE 109, 279, 354 f.; BVerfGE 115, 166, 188; BVerfGE 120, 378, 402; BVerfGE 125, 260, 335), offenbar als gezielte Anlehnung an den Begriff „Chilling Effects”, der zum ständigen Vokabular des EGMR gehört (soweit ersichtlich die erste Erwähnung in EGMR v. 27.3.1996, App. no. 17488/90 Rn. 39 – Goodwin; seitdem ständige Rechtsprechung, zuletzt u.a. EGMR v. 3.12.2013, App. no. 64520/10, Rn. 68, Rn. 73 f.). Auch der EGMR spricht allerdings nicht immer einheitlich von „Chilling Effects”, sondern verwendet auch Umschreibungen, z.B. „hampering” (behindernd, EGMR v. 23.9.1994, App. no. 15890/89, Rn. 35 – Jersild), „deterring” (abschreckend, EGMR v. 27.3.1996, App. no. 17488/90, Rn. 39 – Goodwin), „discouraging” (entmutigend, EGMR v. 28.10.1999, App. no. 28396/95, Rn. 50 – Wille v. Liechtenstein; EGMR v. 3.5.2007, App. no. 1543/06, Rn. 67), „dissuading” (abhaltend, EGMR v. 29.3.2001, App.no. 38432/97, Rn. 51 – Thoma v. Luxembourg; EGMR v. 2.11.2006, App. no. 13071/03, Rn. 4 – Standard Verlags GmbH v. Austria; EGMR v. 6.10.2009, App. no. 27209/03, Rn. 37; EGMR v. 5.7.2011, App. no. 18990/05, Rn. 68), preventing (vermeidend, EGMR v. 14.5.2013, App. no. 67810/10, Rn. 65 – Gross v. Switzerland), „striking” (treffend, EGMR v. 06.09.1978, App. no. 5029/71, Rn. 41 – Klass and other v. Germany; EGMR v. 29.06.2006, App. no. 54934/00, Rn. 78 – Weber and Saravia v. Germany, EGMR v. 01.07.2008, App. no. 58243/00, Rn. 56 – Liberty and others v. the United Kingdom) und „stifling” (erdrückend, EGMR v. 19.9.2013, App. no. 23160/09, Rn. 39). In ständiger Rechtsprechung spricht der EGMR auch von einer „Bedrohung durch Überwachung”, die sich gerade auch auf die Freiheit der Kommunikations beziehe („menace”, EGMR v. 06.09.1978, App. no. 5029/71, Rn. 41 – Klass and other v. Germany bzw. „threat”, EGMR v. 29.06.2006, App. no. 54934/00, Rn. 78 – Weber and Saravia v. Germany, EGMR v. 01.07.2008, App. no. 58243/00, Rn. 56 – Liberty and others v. the United Kingdom).

Häufiger als das BVerfG assoziiert der EGMR die einschüchternden Effekte unmittelbar mit staatlichem Handeln. Unerwünscht ist laut dem Gerichtshof die Ausübung von Druck („pressure”, EGMR v. 13.11.2003, App. nos. 23145/93 and 25091/94, Rn. 711), die Einschüchterung („intimidation”, EGMR a.a.O.), die Drohung mit Ordnungsmaßnahmen („threat of an ex post facto review”, EGMR v. 21.3.2002, App. no. 31611/96, Rn. 54), die besitzergreifende Beeinflussung („proprietary interference in the editorial process”, EGMR v. 3.12.2013, App. no. 64520/10, Rn. 73) oder einfach nur das ins-Auge-fassen bestimmter Vorgänge („envisaged”, EGMR v. 23.9.1994, App. no. 15890/89, Rn. 35 – Jersild v. Denmark). Gerade in jüngeren Entscheidungen neigt der EGMR dazu, chilling effects bereits ab einer recht geringen Eingriffstiefe anzunehmen: Im Verfahren Gross v. Switzerland z.B. schon durch eine unklare Rechtslage, die längeren rechtlichen Auseinandersetzungen und eventuellen standesrechtlichen Konsequenzen hätte führen können (EGMR v. 14.5.2013, App. no. 67810/10 – Gross v. Switzerland).

Das BVerfG vermeidet eine solche unmittelbare Assoziation: Die Chilling Effects erscheinen in der BVerfG-Rechtsprechung eher als unvermeidliche Nebenfolgen z.B. von zivilrechtlichen Streitigkeiten oder von Verwaltungshandeln (statt vieler BVerfGE 54, 129, 135 f.). Ein Paradigmenwechsel deutet sich allerdings in den jüngeren Entscheidungen an, die sich mit „Chilling Effects” aufgrund von Überwachung auseinandersetzen: Das BVerfG spricht darin von einem „abschreckenden Effekt fremden Geheimwissens” (BVerfGE 113, 29, 46 – Anwaltsdaten; BVerfGE 115, 166, 188 – Online-Durchsuchung) oder, gerade im Kontext der Einschüchterung, auch von einem „bedrohlichen Gefühl des Beobachtetseins” (BVerfGE 125, 260, 319 – Vorratsdatenspeicherung; ähnlich auch BVerfGE a.a.O., 332 „Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens” und 335, „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens”; BerlVerfGH v. 11.4.2014, Az. 129/13, Rn. 49, „Gefühl des Beobachtetseins”).

Fast vollständig unbeachtet geblieben ist der Gedanke der Chilling Effects, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung des EuGH. Nur in einer Entscheidung von 2010 spricht der Gerichtshof bezüglich der Niederlassungsfreiheit von einer „abschreckenden Wirkung” auf Investoren (EuGH v. 21.10.2010, Rs. C-81/09, Rn. 59 – Idryma Typou). Hier ergibt sich eine Parallele zur Dassonville-Formel, nach der nicht nur konkrete Ein- und Ausfuhrkontrollen die Warenverkehrsfreiheit beschränken, sondern auch „Maßnahmen gleicher Wirkung” (EuGH v. 11. Juli 1974, Rs. 8/74, Rn. 2 ff. – Dassonville). Im Übrigen ist die einzige nennenswerte Erwähnung der „Chilling Effects” durch den EuGH die jüngste Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung: Der Gerichtshof erwähnt, die Vorratsdatenspeicherung sei geeignet, bei den Bürgern das „Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist” (EuGH v. 8.4.2014, Rs. C-293/12 und C-594/12, Rn. 37).

2. Nicht immer geht es um die Beeinträchtigung von Grundrechten – aber meistens.

Der Gedanke der Chilling Effects wird im üblicherweise mit der Meinungsfreiheit assoziiert. Dort ist auch der Schwerpunkt der Rechtsprechung zu verorten. Eine genaue Auswertung zeigt aber, dass der Gedanke auch auf andere Grundrechte übertragen wird – und teils auch auf rechtlich geschütztes Verhalten, das gar nicht unmittelbar mit den Kommunikationsfreiheiten zu tun hat. Soweit ersichtlich, will die Rechtsprechung die folgenden Bereiche vor einschüchternden Effekten schützen:

  • Meinungsfreiheit (BVerfGE 7, 198, 211; BVerfGE 43, 130, 136; BVerfGE 54, 129, 135 f.; BVerfGE 93, 266, 292; BVerfGE 94, 1, 9; BVerfGE 99, 185, 197; BVerfGE 114, 339, 349; EGMR v. 28.10.1999, App. no. 28396/95, Rn. 50 – Wille v. Liechtenstein; EGMR v. 29.3.2001, App. no. 38432/97, Rn. 51 – Thoma v. Luxembourg; EGMR v. 2.11.2006, App. no. 13071/03, Rn. 49 – Standard Verlags GmbH v. Austria; EGMR v. 19.9.2013, App. no. 23160/09, Rn. 39)
  • Rundfunkfreiheit (BVerfGE 73, 118, 183; EGMR v. 16.10.2013, App. no. 73469/10, Rn. 80)
  • Pressefreiheit (EGMR v. 23.9.1994, App. no. 15890/89, Rn. 35 – Jersild v. Denmark; EGMR v. 27.3.1996, Ap. no. 17488/90, Rn. 39 – Goodwin v. United Kingdom; EGMR v. 6.10.2009, App. no. 27209/03, Rn. 37 – Kulis and Rozycki v. Poland; EGMR v. 5.7.2011, App. no. 18990/05, Rn. 68 und 82; EGMR v. 3.12.2013, App. no. 64520/10, Rn. 73 f.)
  • Versammlungsfreiheit (BVerfGE 65, 1, 43; BVerfGE 122, 342, 358 f., 365 und 369; BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2007, Az. 1 BvR 943/02, Rn. 34 ff.; EGMR v. 3.5.2007, App. no. 1543/06, Rn. 67)
  • Wissenschaftsfreiheit (EGMR v. 3.12.2013, App. no. 64520/10, Rn. 68; wohl auch EGMR v. 19.9.2013, App. no. 23160/09, Rn. 70)
  • Recht auf Privatleben (EGMR v. 06.09.1978, App. no. 5029/71, Rn. 41; EGMR v. 29.06.2006, App. no. 54934/00, Rn. 78, EGMR v. 01.07.2008, App. no. 58243/00, Rn. 56; EuGH v. 8.4.2014, Rs. C-293/12 und C-594/12, Rn. 37)
  • Recht auf Entscheidung über das eigene Lebensende (EGMR v. 14.5.2013, App. no. 67810/10 – Gross v. Switzerland
  • Die Funktionsfähigkeit eines Strafprozesses, insbesondere die unbeeinträchtigte Funktion „des staatsanwaltschaftlichen Vorgehens und der richterlichen Entscheidungsfindung” (BVerfG NJW 1996, 310, 310 f.)
  • Strafverteidigung durch einen Rechtsanwalt (EGMR v. 21.3.2002, App. no. 31611/96, Rn. 54; EGMR v. 13.11.2003, App. nos. 23145/93 and 25091/94, Rn. 714; EGMR v. 17.7.2008, App. no. 513/05, abweichende Meinung der Richter Rozakis, Vajic und Spielmann, Rn. 8 – Schmidt v. Austria)
  • Die Möglichkeit, grundrechtsschützende Verfahren einzuleiten, also Rechtsschutz zu suchen (EGMR v. 13.11.2003, App. nos. 23145/93 and 25091/94, Rn. 711)
  • Allgemein alle Grundrechte bzw. die Allgemeine Handlungsfreiheit („Ausübung anderer Grundrechte” bzw. die „Freiheit des Einzelnen, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden”, BVerfGE 65, 1, 43; BVerfGE 115, 166, 188; „unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte”, BVerfGE 125, 260, 319, bzw. „Freiheitswahrnehmung”, BVerfG a.a.O., 332; „Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit” des Bürgers im „freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen”, BVerfGE 93, 266, 292)
  • Niederlassungsfreiheit (EuGH v. 21.10.2010, Rs. C-81/09, Rn. 59 – Idryma Typou)

(Hinzuweisen ist an dieser Stelle darauf, dass die Zuordnung der Gerichtsentscheidungen zu bestimmten Grundrechten etwas willkürlich ist, speziell was den EGMR betrifft. Denn die „Kommunikationsfreiheit” in Art. 10 EMRK ist eher allgemein formuliert und trennt nicht zwischen den einzelnen Freiheitssphären. Der EGMR hat dadurch die Möglichkeit, in seiner Argumentation recht frei zwischen den einzelnen Grundrechten zu wechseln, ohne jeweils neu einen Schutzbereich abgrenzen zu müssen. Die Entscheidungen, die oben der Pressefreiheit zugeordnet sind, betreffen dem Wortlaut nach z.B. eher die „Freiheit des Journalismus”; der Pressefreiheit habe ich sie zugeordnet, weil es jeweils um Printjournalisten ging.)

Die Tatsache, dass die Rechtsprechung die „Chilling Effects” nicht auf Kommunikationsfreiheiten beschränkt, zeigt, dass es sich weniger um eine Ausprägung eines bestimmten grundrechtlichen Schutzbereichs handelt, sondern eher eine Überlegung der Rechtsmethodik. Diese betrifft die Frage, ab welcher Eingriffsintensität ein bestimmter Freiheitsraum rechtlichen Schutz genießt, und welche Rolle es spielt, wenn die streitgegenständliche Maßnahme auch auf das Gefühlsleben Dritter einwirkt (zu dem genauen Wirkmechanismus von Chilling Effects werde ich bei späterer Gelegenheit noch etwas schreiben). Einstweilen leitet diese Erkenntnis erst einmal über zur letzten wichtigen Ableitung aus der Rechtsprechungsauswertung:

3. Chilling Effects betreffen (meist) Bereiche, in denen der Schutzstandard besonders hoch ist.

Die bisherige Rechtsprechung argumentiert mit den abschreckenden Effekten bisher meist dann, wenn ein bestimmtes Handeln einen besonderen rechtlichen Schutz genießt. Beispielhaft genannt sei die Kommunikation zwischen Journalist und Quelle (EGMR v. 27.3.1996, App. no. 17488/90, Rn. 39 – Goodwin) oder die Aussagen von Zeugen im Strafprozess (BVerfG NJW 1996, 310, 310 f.). Das BVerfG betont deshalb, dass die Beinträchtigung durch Chilling Effects den „Kern” der grundrechtlich geschützten Persönlichkeitssphäre betrifft, (BVerfGE 43, 130, 136; BVerfGE 54, 129, 135 f.) an anderer Stelle spricht es von einem Eingriff in die „Substanz” eines Grundrechts (BVerfGE 43, 130, 136; BVerfGE 114, 339, 349; siehe auch EGMR v. 5.7.2011, App. no. 18990/05, Rn. 82: „going to the heart of decisions on the substance of press interviews and shares”). Dies begründet das BVerfG damit, dass der konkrete Eingriff eben nicht nur die jeweils verletzte Person betrifft, sondern als abschreckender Effekt auch die Allgemeinheit: Auch andere Grundrechtsträger werden abgeschreckt, was das Funktionieren der gesellschaftlichen, demokratischen Prozesse einschränkt (siehe neben der bereits genannten Rechtsprechung v.a. BVerfGE 94, 1, 9; BVerfGE 99, 185, 197; BVerfGE 100, 313, 381; BVerfGE 109, 279, 354 f.).

Der EGMR argumentiert ähnlich – wobei allerdings im Fall der EMRK schon in Art. 10 Abs. 2 vorgesehen ist, dass Beschränkungen der Kommunikationsfreiheiten „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” sein müssen. Der unmittelbare Bezug zum Wohl der Allgemeinheit bzw. Demokratie ergibt sich damit schon aus dem Gesetzestext. In diesem Kontext verweist der EGMR regelmäßig darauf, die Presse dürfe nicht von der Diskussion von Themen des Allgemeininteresses abgehalten werden („matters of public interest”; statt vieler EGMR v. 23.9.1994, App. no. 15890/89, Rn. 35 – Jersild v. Denmark und EGMR v. 27.3.1996, Ap. no. 17488/90, Rn. 39 – Goodwin; EGMR v. 2.11.2006, App. no. 13071/03, Rn. 49 – Standard Verlags GmbH v. Austria). In einer jüngeren Entscheidung weist der EGMR auch darauf hin, dass Einschränkungen des Kommunikationsprozesses zum Schaden der gesamten Gesellschaft wirkten („detriment of society as a whole”; EGMR v. 5.7.2011, App. no. 18990/05, Rn. 68 – Wizerkaniuk v. Poland).

Die Gerichte haben deshalb „Chilling Effects” vor allem dann besonders hervorgehoben, wenn Bereiche betroffen waren, bei denen sie ein unbefangenes Verhalten der Bürger für besonders wichtig hielten. Dies sind natürlich die Schutzbereiche der Grundrechte; aber auch der innerprozessualen Kommunikation haben die Gerichte einen solchen besonderen Schutz zugewiesen. In der Entscheidung zu Idryma Typou meint der EuGH sogar, selbst die Niederlassungsfreiheit mit einem solch weitreichenden Schutz ausstatten zu müssen (EuGH v. 21.10.2010, Rs. C-81/09, Rn. 59).

Aus dieser Überlegung lösen sich allerdings die Entscheidungen, die Bezug auf die staatlich organisierte Überwachung nehmen. Diese Überwachung hat Breitenwirkung und betrifft die Gesellschaft als Gesamtheit: Nicht der einzelne Bürger wird bei einer speziellen, besonders schützenswerten Tätigkeit eingeschüchtert, sondern alle Grundrechtsträger letztlich bei der Ausübung all ihrer Grundrechte. Der EGMR spricht insofern zumindest noch von einer „Freiheit der Kommunikation” (EGMR v. 06.09.1978, App. no. 5029/71, Rn. 41; EGMR v. 29.06.2006, App. no. 54934/00, Rn. 78, EGMR v. 01.07.2008, App. no. 58243/00, Rn. 56); beim BVerfG fehlt der Bezug zu speziellen Schutzbereichen meist völlig; an dessen Stelle tritt die allgemeine Erwähnung der „Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen” (BVerfGE 125, 260, 319) bzw. der „Freiheitswahrnehmung” (BVerfG a.a.O., 332). Indem das BVerfG anerkennt, dass einschüchternde Effekte auch gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten können, geht es einen Schritt weiter als zuvor. Gleichzeitig ist den Entscheidungen aber auch anzumerken, dass das Gericht die abschreckenden Effekte nicht so stark gewichtet wie an anderer Stelle: Wenn Otto Normalverbraucher sich aufgrund von Überwachung etwas unwohl fühlt, ist das eben nicht vergleichbar mit einem Journalisten, der wegen eines konkreten Haftungsrisikos beim Ausarbeiten eines Artikels die „Schere im Kopf” spürt und sich nicht traut, eine bestimmte Information zu veröffentlichen.

Was ergibt sich daraus für den NSA-Skandal?

Nach dem oben Gesagten lässt sich festhalten, dass „Chilling Effects” eine Rechtsfigur sind, die sowohl in der Rechtsprechung des BVerfG als auch des EGMR anerkannt sind und eine lange Tradition haben. Auch wenn die Begrifflichkeiten nicht immer einheitlich sind – eindeutig erkennbar ist die Überzeugung der Gerichte, den Grundrechten nicht nur einen subjektiv-rechtlichen Schutz zuzugestehen, sondern auch einen objektivrechtlichen Schutzgehalt, der auch einen Schutz der Gesellschaft gegen Einschüchterungseffekte umfasst. Die Gerichte sehen die Einschüchterungseffekte als ein Übel, das es möglichst zu vermeiden gilt und stellen diese Überlegung in ihre rechtliche Bewertung ein – meist als Teil des Abwägungsprozesses.

Ebenfalls ist festzuhalten, dass das BVerfG, der EGMR und auch der EuGH die staatliche Überwachung als Auslöser von Chilling Effects behandeln. Der EGMR hat zu einem solchen Thema, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Auch bei den Überwachungs-Entscheidungen des BVerfG und des EuGH stehen die „Chilling Effects” allerdings nicht im Mittelpunkt: Die Gerichte prüfen die Überwachungsmaßnahmen vorrangig als Verletzung konkreter Grundrechte. Dies ist auch folgerichtig, wenn es um eine punktuelle Überwachungsmaßnahme geht, die sich auf das Befinden der Allgemeinheit nicht unmittelbar auswirkt.

Wenn wir aber von der Massenüberwachung reden, die u.a. von der NSA und dem GCHQ ausgeht, ändert sich das Bild. Die Enthüllungen von Snowden haben gezeigt, dass es gegenüber den Geheimdiensten – und damit gegenüber dem Staat selbst – faktisch keine Privatsphäre mehr gibt. Oder wie Snowden es gegenüber den Mitgliedern eines Untersuchungsausschusses des EU-Parlamentes ausgedrückt hat: „I am telling you that without getting out of my chair, I could have read the private communications of any member of this committee, as well as any ordinary citizen. I swear under penalty of perjury that this is true.”

Es geht somit eben nicht mehr um einzelne, konkrete Maßnahmen, die einen eng umgrenzten Personenkreis bei einer konkreten Tätigkeit einschüchtern – es geht um die Einführung des Überwachungsstaats. Und um das generelle Ende des Glaubens daran, dass es Bereiche des persönlichen Lebens gibt, von denen der Staat nichts wissen kann. Anders als bei punktuellen Eingriffen in die Grundrechte, wo die individuellen Grundrechte die Streitentscheidung bestimmen, geht es bei der Massenüberwachung einer Gesellschaft vor allem um die Chilling Effects. Es wäre sinnlos, die Speicherung der personenbezogenen Daten der ca. 80 Millionen Einwohner Deutschlands 80-millionenfach an ihren Grundrechten zu messen. Die einzelne Person mag mit der Überwachung klarkommen. Aber was ist mit der Gesellschaft als solcher? Der richtige Prüfungsmaßstab kann insofern nur der Effekt auf die Gesamtgesellschaft sein, der von der Massenüberwachung ausgeht. In diesem Zusammenhang hat richtigerweise auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung bereits festgehalten, dass eine Gesetzgebung, „die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte […] von vornherein mit der Verfassung unvereinbar” wäre; „die Freiheitswahrnehmung der Bürger” darf „nicht total erfasst und registriert werden” (BVerfGE 125, 260, 323).

Eine vollständige Bewertung der NSA-Affäre ist damit noch nicht möglich; hierfür sind noch einige gedankliche Zwischenschritte notwendig, die ich in späteren Artikeln noch vornehmen werde. Aber der Prüfungsmaßstab steht nun fest.

Zur Rechtsprechungsübersicht.
Zum Unterblog zu Chilling Effects.

, Telemedicus v. 09.05.2014, https://tlmd.in/a/2773

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Newsletter

In Kooperation mit

Kommunikation & Recht

Hosting

Domainfactory