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Vorratsdatenspeicherung als chilling effect

Dr. Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat im Dezember an der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung teilgenommen. In einem umfangreichen, lesenwerten Beitrag fasst er den Verlauf der Verhandlung und die Positonen des AK Vorratsdatenspeicherung dazu zusammen. In dem Artikel kommt auch ein Abschnitt zu der Frage vor, ob die Vorratsdatenspeicherung ein chilling effect ist:

Schließlich führte Prof. Dr. Möllers an, eine abschreckende Wirkung der Vorratsdatenspeicherung sei nicht nachgewiesen. Auch ein Richter stellte später einem Sachverständigen die Frage, ob es wissenschaftliche, empirische Nachweise für eine abschreckende Wirkung der Vorratsdatenspeicherung gebe. Der Sachverständige sagte, ihm seien keine solchen Nachweise bekannt. Herr Dr. Hirsch äußerte die Vermutung, das Kommunikationsverhalten ändere sich vielleicht nur deswegen nicht, weil die Betroffenen von der Vorratsdatenspeicherung nicht wüssten.

Leider wurde als Beleg nicht die Forsa-Umfrage genannt, derzufolge sieben von zehn Befragten von der Vorratsdatenspeicherung wussten und die Mehrheit der Befragten angab, sie würde wegen der Vorratsdatenspeicherung davon absehen, per Telefon, E-Mail oder Handy Kontakt zu einer Eheberatungsstelle, einem Psychotherapeuten oder einer Drogenberatungsstelle aufzunehmen, wenn sie deren Rat benötigten. Hochgerechnet entspricht dies über 43 Mio. Deutschen. Jede dreizehnte Person hatte wegen der Verbindungsdatenspeicherung bereits mindestens einmal darauf verzichtet, Telefon, Handy oder E-Mail zu benutzen. Hochgerechnet entspricht dies 6,5 Mio. Deutschen. Des weiteren hat der Deutsche Fachjournalistenverband eine Online-Befragung (Vollerhebung) freier Journalisten in Auftrag gegeben. Jeder vierzehnte Journalist erklärte, die Vorratsdatenspeicherung habe sich bereits negativ auf die Kommunikation mit seinen Informanten ausgewirkt.

Über solche unabhängigen Umfragen hinaus könnte letztlich nur experimentelle Forschung darüber Aufschluss geben, ob eine Verbindungsdatenspeicherung tatsächlich von der Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzung abschreckt. Dass solche Nachweise für die Vorratsdatenspeicherung nicht vorliegen, liegt ausschließlich daran, dass entsprechende Experimente mangels Finanzierung bislang nicht durchgeführt worden sind. Dies ist ein Versäumnis der Bundesregierung, nicht der Beschwerdeführer, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügen. Dort, wo Experimente durchgeführt worden sind, konnten Auswirkungen von Überwachung eindeutig nachgewiesen werden: Unter dem Eindruck eines Augenpaars zahlen Studenten etwa williger in eine Kaffeekasse ein; bei Erfassung ihrer Arbeitszeit machen Arbeitnehmer nur noch Dienst nach Vorschrift.

Die Frage nach den chilling effects könnte in der Tat zu einem der Knackpunkte der Entscheidung werden. Wie stark führt das „Beobachtetwerden” dazu, dass die Bürger ihr Kommunikationsverhalten einschränken? Ist der Effekt eher positiv oder negativ, und in welchem Umfang ist er demokratieschädlich?

Mit dieser Frage in Verbindung steht die Frage, ob bereits die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie formell rechtswidrig ist, weil die Kommission bei seinem Erlass außerhalb ihrer Zuständigkeit gehandelt hat. Das BVerfG hat in seinem Lissabon-Urteil bereits deutlich gemacht, dass es solche Zuständigkeitsmängel der EU selbst überprüft (Vierter Leitsatz; Rn. 240 ff.).

In diesem Urteil hat es auch definiert, wo es die absoluten Grenzen der EU-Zuständigkeit sieht – und zwar unabhängig vom Wortlaut der EU-Verträge. Es leitet aus dem GG selbst einen „Kernbereich staatlicher Eigenverantwortung” her, der der EU wegen deren aktuellen Demokratiedefizits nicht zugänglich ist. Hierzu führt es bei Randnummer 249 aus:

Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis.

Soweit das BVerfG also nicht nur das deutsche Umsetzungsgesetz prüft, sondern auch die zugrundeliegende EU-Richtlinie, wird es sich vermutlich auch mit der Frage beschäftigen, ob die Einführung einer allgemeinen Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung auch den „Kernbereich” der deutschen Demokratie berührt – und insofern nicht durch Europarecht vorgegeben werden darf. Ich persönlich würde sagen: Ja, das tut es.

Zur Beschreibung der mündlichen Verhandlung bei Daten-Speicherung.de.

, Telemedicus v. 24.01.2010, https://tlmd.in/a/1621

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