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BVerfG: Rhetorische Fragen und Meinungsfreiheit

BVerfG, Beschluss v. 09.10.1991, Az. 1 BvR 221/90

1. Fragen fallen genau wie Werturteile in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 GG.

2. Rhetorische Fragen sind in ihrer äußerungsrechtlichen Bewertung mit Aussagen gleichgesetzt.

3. Eine rhetorischen Frage zeichnet sich gegenüber einer „echten“ Frage dadurch aus, dass der Fragesatz nicht auf Antwort gerichtet und gerade nicht für verschiedene Antworten offen ist.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

Beschluss

Aktenzeichen: 1 BvR 221/90

Verkündet am: 1991-10-09

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn B. […]

gegen

a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Januar 1990 – 1 Ss 243/89,
b) das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 3. Februar 1989 – 6 Js 1128/88 – 81 Ls.
Tenor:

Der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Januar 1990 – 1 Ss 243/89 – und das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 3 .Februar 1989 – 6 Js J5128/88 – 81 Ls – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes . Die Entscheidungen werden aufgehoben.

Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigenAuslagen zu erstatten.

Gründe:
A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen übler Nachrede durch Verbreitung von Schriften.

I.

1. Der Beschwerdeführer war Abgeordneter des „Arbeitskreises Umwelt und Frieden/AUF“ im Ortsbeirat eines Stadtteils von Wiesbaden. In dieser Eigenschaft beantragte er, eine 14 Punkte.umfassende Anfrage an den Magistrat der Stadt zu richten, die ein im Ortsbezirk liegendes Alten- und Pflegeheim betraf. Dieses wird in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung betrieben, deren Anteile die Stadt mehrheitlich hält. Gleichzeitig mit der Stellung des Antrags veröffentlichte der Arbeitskreis die 14 Fragen in einer Extraausgabe seiner Zeitschrift „Aufschrei“, die in unregelmäßigen Abständen im Ortsbezirk kostenlos verteilt wird. Der Beschwerdeführer zeichnete für diese Ausgabe verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes.

Der Fragenkatalog steht unter der typografisch hervorgehobenen Überschrift „Pressemitteilung“. Daran schließt sich der folgendeText an:

Akute Mißstände
im Alten- und Pflegeheim AKK

„Ein Haus zum Wohlfühlen ist unser Ziel“ – Worte des Heimleiters auf der Weihnachtsfeier des Heimes im Dezember letzten Jahres. Von diesem Ziel scheint man im Alte n- und Pflegeheim aber gegenwärtig weit entfernt zu sein. Jahrelang hatte das Alten- und Pflegeheim einen guten Ruf, der durch Entwicklungen im letzten Jahr nun gefährdet ist. Der Arbeitskreis Umwelt und Frieden (AUF) AKK will nun mit einer Anfrage geklärt haben, „was Sache“ ist und wie vorhandene Mißstände umgehend behoben werden können. Es wurden deshalb folgende Fragen gestellt:

1. Trifft es zu, daß durch Personalknappheit und mangelhafte Qualifikation der Pflegedienstleiterin akute Mängel bei der Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner des Alten- und Pflegeheims bestehen?

2. Trifft es zu, daß während des Nachtdienstes gewöhnlich nur drei Arbeitskräfte die rund 160 Heimbewohner/innen (darunter ca. 100 Pflegefälle) zu betreuen haben?

3. Ist es richtig, daß zu pflegende Personen oft aufgrund von Personalmangel nur alle 14 Tage gebadet werden können?

4. Stimmt es, daß die Materialversorgung für die Pflegestationen (z.B. mit Windeln, Zellstoff etc.) schleppend und so unzureichend erfolgt, daß die zu Pflegenden oft über längere Zeit in Nässe liegen bleiben und gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt werden?

5. Kommt es vor, daß statt fachgerechte Nahrung per Sonde „Klumpen-Brei“ verabreicht wird, was schon zu Komplikationen bis hin zur Krankenhaus-Einweisung geführt haben soll?

6. Trifft es zu, daß am Personal – auf Kosten der alten Menschen – derart gespart wird, daß vom Personal nur die allernotwendigsten Tätigkeiten (und diese z. Teil nurun zureichend) verrichtet werden können?

7. Kommt es regelmäßig vor, daß Pflegekräfte bis zu 18 Tage ohne Unterbrechung (ohne einen einzigen freien Tag) eingesetzt werden?

8. Wird der Einschätzung gefolgt, daß die beispielhaft angesprochenen Mängel zum einen auf die Personalknappheit (z. B. Kürzung bzw. Streichung von Aushilfen) zurückzuführen sind, zum anderen auf unzureichende Qualifikation der Pflegedienstleiterin?

9. Ist ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung genannter Mißstände seit dem Frühjahr 1987 und der Übernahme der Pfle gedi enstleitung durch die gegenwärti g „amtierende “ Pflegedienstleitung zu sehen?

10. Trifft es zu, daß für die Übernahme dieser Aufgabe im Frühjahr 1987 weniger Gesichtspunkte der Qualifikation als persönliche Beziehungen zur Heimleitung die ausschlaggebende Rolle gespielt haben?

11. Hat die außergewöhnlich hohe Fluktuation von qualifizierten, langjährig im Alten – und Pflegeheim AKK tätigen Fachkräften ihre Ursache in den zu klärenden Problemen ?

12 . Wurde langjährig und zur Zufriedenheit tätiges Personal durch schikanöses und diskriminierendes Verhalten (z. B. ausländerfeindliche Äußerungen, Einschüchterung bei Aufsuche n des Betriebsrates usw.) zur Kündigung veranlaßt?

13 . Welche Maßnahmen wurden bzw. werden ergriffen, um die akuten Mißstände im Alten- und Pflegeheim AKK umgehend abzustellen und den jahrelang guten Ruf des Alten- und Pflegeheim AKK zu sichern bzw. wiederherzustellen?

14. Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, um ähnliche Fehlentwicklungen für die Zukunft möglichst auszuschließen?

Ihre im Ortsbeirat gerichtete Anfrage begründet die Fraktion AUF damit, daß die Stadt Wiesbaden Hauptgesellschafterin der gemeinnützigen Alten- und Pflegeheim AKK GmbH ist. Die Vertreter der Stadt haben deshalb im Verwaltungsrat der GmbH die Mehrheit. Da die Einrichtung einen sozialen Auftrag zu erfüllen hat“ – insbesondere gegenüber älteren Menschen in AKK – ist es Aufgabe der politisch Verantwortlichen, eine menschenwürdige und sachgerechte Betreuung im Alten- und Pflegeheim sowie die Einhaltung der gesetzlichen Schutzbestimmungen zu gewährleisten.

Die Geschäftsführer des Heimes, der Heimleiter und die Pflegedienstleiterin stellten Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer. Von der Pflegedienstleiterin wurde der Beschwerdeführer überdies im Eilverfahren und in der Hauptsache erfolgreich auf Unterlassung in Anspruch genommen.

2. Das Amtsgericht hat den Heimleiter und die Pflegedienstleiterin als Nebenkläger zugelassen und den Beschwerdeführer wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu je 80 DM verurteilt. Es hat ihm ferner die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen der beiden Nebenkläger auferlegt und angeordnet, daß Urteilskopf und Urteilsausspruch auf Verlangen der Nebenkläger in mehreren in dem Stadtteil vertriebenen Zeitungen veröffentlicht werden. Das Amtsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:

Obwohl der veröffentlichte Artikel in Frageform gehalten sei, habe der Beschwerdeführer Tatsachenbehauptungen aufgestellt, die einer Beweiserhebung zugänglich seien. Darauf weise zunächst die nicht mit einem Fragezeichen versehene Überschrift hin. Sodann ergebe sich der Behauptungscharakter daraus, daß von „vorhandenen“,“genannten“ und „akuten“ Mißständen sowie von „beispielhaft“ angesprochenen Mängeln die Rede sei. Darüber hinaus führe die Detailfülle in den einzelnen Fragen den Normalleser zu der Einschätzung, daß es sich um Behauptungen handele, die auf genaue Informationen oder Nachforschungen zurückgingen. Nur die Fragen 13 und 14 seien „echte Fragen“; bei den Fragen 2, 3 und 11 handele es sich zwar um Behauptungen, diese seien aber nicht geeignet, die Nebenkläger in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Die Frage 1 sei mit Frage 8 inhaltsgleich.

Mit den Fragen 4 bis 10 und 12 habe der Beschwerdeführer den Tatbestand der üblen Nachrede (§ 186 StGB) in der qualifizierten Form der öffentlichen Begehung durch Verbreitung von Schriften erfüllt. Die in den Fragen enthaltenen Behauptungen seien so beschaffen, daß ein Normalleser den Eindruck haben müsse, die Verantwortlichen seien für den Heimbetrieb persönlich ungeeignet und ließen es zu schwerwiegenden, ihnen vorzuwerfenden Mißständen kommen. Als Verantwortliche kämen für den Normalleser mindestens die Pflegedienstleiterin und der Heimleiter in Betracht. Diese seien zwar in den Publikationen nicht mit Namen, wohl aber in ihren Funktionen genannt.

Die Strafbarkeit des Beschwerdeführers wäre nur dann ausgeschlossen, wenn die herabwürdigenden Behauptungen erweislich wahr gewesen wären. Der Wahrheitsbeweis sei aber nicht erbracht worden. Zu den einzelnen Punkten hat das Amtsgericht eine neuntägige Beweisaufnahme durchgeführt. Danach ergaben sich in allen Fällen Sachverhalte, die zwar Anknüpfungspunkte für die Fragen des Beschwerdeführers sein konnten, den Anforderungen an einen Wahrheitsbeweis nach Auffassung des Amtsgerichts aber nicht genügten.

Das Amtsgericht hat weiter ausgeführt, auf die „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ könne sich der Beschwerdeführer nicht berufen. Dem Veröffentlichungsrecht und Veröffentlichungsinteresse der Presse seien, wenn ein Artikel zu einer Ehrverletzung anderer Personen führe, Grenzen gezogen, die um so enger ausfielen, je größer das Risiko sei, daß sich die ehrverletzenden Behauptungen als unwahr erwiesen. Das sei der Fall, wenn schon auf unzuverlässige oder zweifelhafte Informationen hin veröffentlicht und die Information nicht durch Ermittlungen überprüft werde. Die Presse müsse gegebenenfalls auf die Veröffentlichung verzichten, wenn nicht ein Mindestbestand an Beweistatsachen für den Wahrheitsgehalt einer Information zusammengetragen sei. Die Angaben des Beschwerdeführers ließen noch nicht einmal die Prüfung der Zuverlässigkeit der Informationen zu, die ihm vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestanden hätten. Die behaupteten Mißstände seien auch nicht so schwerwiegend gewesen, daß diese sofort und ohne genauere Prüfung an die Öffentlichkeit hätten gebracht werden müssen. Dabei sei zu berücksichtigen, daß eine gegebenenfalls notwendige Behebung der Mängel schon durch die Anfrage des Beschwerdeführers im Ortsbeirat eingeleitet worden sei.

Das Oberlandesgericht hat die Revision des Beschwerdeführers als offensichtlich unbegründet verworfen.

II.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor:

Das Amtsgericht habe verkannt, daß der Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 1 GG schon bei der Ermittlung des Sinnes der Äußerung selbst und nicht erst bei einer Interessenabwägung zu berücksichtigen sei. Art. 5 Abs. 1 GG werde dadurch verletzt, daß das Amtsgericht die Fragen als Tatsachenbehauptungen interpretiert habe. Es sei zwar möglich, Tatsachenbehauptungen in der Form rhetorischer Fragen aufzustellen. Das sei aber bei dem inkriminierten Fragenkatalog ersichtlich nicht geschehen. Ließe man trotz der eindeutigen grammatikalischen Struktur des Textes die Unterstellung zu, es handele sich gar nicht um Fragen, so wäre eine Erosion der Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit die Folge. Diese schützten auch die gewählte sprachliche Form. Es verstoße deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 GG, der Äußerung einen Sinn zu unterlegen, der weder geäußert noch gewollt gewesen sei.

Selbst wenn man der Anfrage den Fragencharakter absprechen wollte, würde es sich aber überwiegend um Meinungsäußerungen und nicht um Tatsachenbehauptungen handeln. Im übrigen sei es von Bedeutung, daß eine die Öffentlichkeit interessierende Angelegenheit
vorgelegen habe.

Da es sich beim „Aufschrei“ um ein Presseprodukt handele, sei der Beschwerdeführer auch in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

III.

1. Die Hessische Staatskanzlei hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit würden verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft werde mit der Folge, daß sie nicht mehr am Schutz der Meinungsfreiheit teilnehme. Schon diesen Anforderungen genügten die angefochtenen Entscheidungen nicht. Es fehlten Ausführungen über Sinn und Zweck der Äußerungen des Beschwerdeführers. Überzeugende Gründe, die eine andere Beurteilung als die vom Amtsgericht vorgenommene ausschließen würden, seien im Urteil nicht dargetan worden.

Die Urteile würden Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch materiell nicht gerecht. Der Beschwerdeführer habe mit seiner Anfrage ein wichtiges soziales Anliegen verfolgt. Der Pflegenotstand und die damit potentiell verbundenen Mißstände seien gerade in den letzten Jahren immer wieder öffentlich diskutiert worden. Daß dem Beschwerdeführer unter diesem Aspekt ein erhöhter Grundrechtsschutz zustehe, habe das Amtsgerichtaußer acht gelassen. In diesem Zusammenhang sei es nicht nachvollziehbar, wenn das Amtsgericht zwischen dem Antrag im Ortsbeirat und der öffentlichen Verbreitung des Textes der Anfrage unterscheide und gerade in der Flugblattaktion das tatbestandsbegründende Unrecht sehen wolle . Im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG könne es dem Beschwerdeführer nicht verwehrt sein, das Augenmerk der Öffentlichkeit auf seine Initiative im Ortsbeirat zu richten.

Auch wenn man den verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz betone, sei zu berücksichtigen, daß die kritischen Fragen des Beschwerdeführers nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme einen wahren Tatsachenkern enthielten. Soweit das Amtsgericht dem Beschwerdeführer den Vorwurf mache, er habe den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe nicht hinreichend geprüft, würden die Anforderungen an die Erkundigungspflicht überspannt, da dem Beschwerdeführer keine anderen Mittel als Gespräche mit Zeugen zur Verfügung gestanden hätten. Potentielle Mißstände ließen sich nur aufklären, wenn überspitzte und kritische Fragen gestellt würden.

2. Die Nebenklägerin verteidigt die angegriffenen Entscheidungen und weist darauf hin, daß auch die Zivilgerichte im Eil- und im Hauptsacheverfahren im gleichen Sinne entschieden hätten. Der Beschwerdeführer habe diese Entscheidungen rechtskräftig werden lassen und dadurch zu erkennen gegeben, daß er eine Berufung für aussichtslos halte.

B.
I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Hinsichtlich der Rüge einer Verletzung von Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art. 1 Abs.1 GG hat der Beschwerdeführer allerdings die Anforderungen, die sich aus §§ 23, 92 BVerfGG ergeben, nicht erfüllt, weil die Möglichkeit einer solchen Verletzung nicht dargetan ist.

II .

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Prüfungsmaßstab ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Wie in dem Beschluß vom heutigen Tage (1 BvR 1555/88)1 näher dargelegt ist, greift es ein, wenn die Zulässigkeit einzelner Äußerungen in Rede steht, und zwar auch dann, wenn diese in einem Presseerzeugnis enthalten sind.

2 . Da die angegriffenen Entscheidungen die umstrittenen Äußerungen des Beschwerdeführers als unwahre Tatsachenbehauptungen bewertet und damit dem Schutz des Grundrechts entzogen haben, sind die Annahmen, auf denen diese Einordnung beruht, vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BVerfGE 82, 272 [280f.] m.w.N.).

3. Die Strafgerichte haben den umstrittenen Äußerungen des Beschwerdeführers zu Unrecht den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vorenthalten. Zwar trifft es zu, daß das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht die erwiesen oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptung schützt (vgl. BVerfGE 61, 1 [8]). Bei den in Frageform gekleideten Äußerungen des Beschwerdeführers handelt es sich jedoch nicht um solche Tatsachenbehauptungen.

a) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gewährleistet, ohne ausdrücklich zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung zu unterscheiden, jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Bei Werturteilen handelt es sich stets um Meinungsäußerungen. Sie sind daher ohne weiteres von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt, und zwar unabhängig von ihrem Inhalt und ihren Gründen. Tatsachenbehauptungen, die streng genommen keine Meinungsäußerung bilden, genießen den Grundrechtsschutz jedenfalls insoweit, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind (vgl. BVerfGE 61,1 [8]). Ob auch Fragen am Grundrechtsschutz teilnehmen und wie sie gegebenenfalls einzuordnen sind, hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden.

Fragen unterscheiden sich von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen dadurch, daß sie keine Aussage machen, sondern eine Aussage herbeiführen wollen. Sie sind auf Antwort gerichtet. Diese kann in einem Werturteil oder einer Tatsachenmitteilung bestehen. Dagegen lassen sich Fragen keinem der beiden Begriffe zuordnen, sondern bilden eine eigene semantische Kategorie. Sie fallen deswegen aber nicht aus dem Schutzbereich des Grundrechts heraus. Das ergibt sich aus dessen Schutzzweck. Die freie Meinungsäußerung wird vom Grundgesetz garantiert, weil sie sowohl unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Person als auch unerläßliche Voraussetzung einer demokratischen Ordnung ist (vgl. BVerfGE 7,198 [208]). Daher erschöpft sich das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG auch nicht im Schutz einzelner Äußerungen, sondern will die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung insgesamt sichern (vgl. BVerfGE 57, 295 [319]). Für den Meinungsbildungsprozeß spielen Fragen aber eine wichtige Rolle. Indem sie die Aufmerksamkeit auf Probleme lenken und Antworten hervorrufen, tragen sie zur Bildung von Meinungen bei, die dann ihrerseits wieder geäußert werden können. Das ist umso wichtiger, als in vielen Bereichen, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen oder berühren, der Einzelne nicht über die für seine Meinungsbildung erforderlichen Informationen verfügt, so daß ihm nur die Möglichkeit kritischer oder nachforschender Fragen bleibt. Fehlte der Grundrechtsschutz für Fragen, so wäre der Kornmunikationsprozeß, den Art. 5 Abs.1 GG in seiner Gesamtheit schützen will, nur unzureichend gesichert.

Neben Werturteilen und Tatsachenbehauptungen sind daher auch Fragen von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen können Fragen aber nicht unrichtig sein (vgl. J. Walther, Logik der Fragen, 1985, S. 30H.). Zwar enthält jede Frage, indem sie sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht, ausgesprochen oder unausgesprochen Annahmen tatsächlicher oder wertender Art, die der Fragende einer Verifizierung oder Klärung zuführen will. Insofern gibt es keine reinen Fragen, denen jeder Aussagegehalt fehlt. Da der Fragende aber gerade wissen will, was richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist, und dabei für verschiedene Antworten offen bleibt, kann die Frage selber nicht an den Kriterien von Wahrheit oder Unwahrheit gemessen werden. Das gilt auch, wenn sich eine Frage auf Tatsachen bezieht, die sich anschließend als nicht gegeben herausstellen. Unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit stehen Fragen daher Werturteilen gleich.

Allerdings ist nicht jeder in Frageform gekleidete Satz als Frage zu betrachten. Insofern muß zwischen Fragen und Fragesätzen unterschieden werden (vgl. Walther, a.a.O., S. 24ff.; D. Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, 1976, S. 181ff.). Einerseits können Fragen in Aussagesätze, andererseits Aussagen in Fragesätze gekleidet sein. Ferner kann es vorkommen, daß in einem Fragesatz Behauptungen aufgestellt werden, auf die sich das Klärungsbegehren des Fragenden nicht bezieht. Ist ein Fragesatz nicht auf eine Antwort durch einen Dritten gerichtet oder nicht für verschiedene Antworten offen, so handelt es sich ungeachtet der geläufigen Bezeichnung als “ rhetorische Frage“ in Wahrheit nicht um eine Frage (vgl. Walther, a.a .O., S. 26 ff.). Fragesätze oder Teile davon, die nicht um einer – inhaltlich noch nicht feststehenden – Antwort willen geäußert werden, bilden vielmehr Aussagen, die sich entweder als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung darstellen und rechtlich wie solche zu behandeln sind.

Die Unterscheidung zwischen echten und rhetorischen Fragen kann freilich Schwierigkeiten bereiten, weil die sprachliche Form allein keine zuverlässigen Schlüsse erlaubt. Die Zuordnung muß daher gegebenenfalls mit Hilfe von Kontext und Umständen der Äußerung erfolgen. Da vom Ergebnis der Zuordnung das Maß des Grundrechtsschutzes abhängt, erlangt Art. 5 Abs .1 Satz 1 GG insoweit, daß für die Einstufung eines Fragesatzes als rhetorische Frage Gründe angegeben werden. Ist ein Fragesatz mehreren Deutungen zugänglich, von denen ihn eine als echte, die andere als rhetorische Frage erscheinen läßt, müssen die Gerichte beide Deutungen erwägen und ihre Wahl begründen. Dabei genügt der hohe Konkretisierungsgrad einer Frage für sich genommen nicht, um diese als rhetorisch auszuweisen. Je detailreicher eine Frage ist, desto höher ist zwar der Anteil von Aussagen, die sie enthält und auf die sich das Klärungsbegehren des Fragenden bezieht. Ein hoher Tatsachenanteil macht eine Frage aber noch nicht zur Tatsachenbehauptung. Auch bei hochgradig konkreten Fragesätzen hängt die Einordnung als echte oder rhetorische Frage nur davon ab, ob die Frage auf eine inhaltlich noch nicht feststehende Antwort zielt oder ob der Fragende den Zweck seiner Äußerung bereits mit der Stellung der Frage erreicht hat. Im Zweifel ist im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes – ebenso wie von einem weiten Meinungsbegriff (vgl. BVerfGE 61,1 [9]) – von einem weiten Fragebegriff auszugehen.

Die Meinungsfreiheit ist vom Grundgesetz jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet ihre Schranken nach Art. 5 Abs. 2 GG in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Allerdings müssen diese Bestimmungen ihrerseits wieder im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt werden, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7,198 [208f.]; st. Rspr.). Das führt in der Regel zu einer fallbezogenen Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem vom grundrechtsbeschränkenden Gesetz geschützten Rechtsgut.

So verhält es sich auch bei Fragen. Insbesondere besteht die Möglichkeit, daß Fragen Dritte in ihrer persönlichen Ehre verletzen. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die in einer Frage vorausgesetzten oder ausgesprochenen tatsächlichen Annahmen ehrenrührig sind. Insoweit kann es wie bei Meinungsäußerungen, in denen sich Werturteile und Tatsachenbehauptungen unauflösbar vermengen, darauf ankommen, ob der Fragende für den tatsächlichen und ehrenrührigen Gehaltseiner Frage Anhaltspunkte besaß oder ob dieser aus der Luft gegriffen war (vgl. den Beschluß vom heutigen Tag -1 BvR 1555/88). Dabei dürfen jedoch keine Anforderungen gestellt werden, die sich abschreckend auf den Gebrauch des Grundrechts auswirken können. Es wäre mit dem Schutzzweck von Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage ein Bürger, der die Klärung und Überprüfung möglicher Mißstände erstrebt, vor die Alternative gestellt würde, entweder die Untersuchung selbst vorzunehmen oder die Nachfrage ganz zu unterlassen. Die Vermutung zugunsten der freien Rede (vgl. BVerfGE 7,198 [212]) gilt deswegen auch für Fragen.

b) Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Urteile der Strafgerichte einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das . Amtsgericht hat seine Auffassung, bei den umstrittenen Fragen handele es sich in Wahrheit um unwahre Tatsachenbehauptungen, zwar begründet. Die Gründe genügen aber den Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht.

Nach Ansicht des Amtsgerichts ergibt sich der Behauptungscharakter der Fragen zum einen daraus, daß die Überschrift des Extrablatts in Aussage- und nicht in Frageform gehalten ist. Auch der Text der Einleitung weise auf Tatsachenbehauptungen hin. So werde davon gesprochen, daß der gute Ruf des Heimes durch „die Entwicklungen im letzten Jahr“ gefährdet sei. Dort wie auch in den Fragen 9 und 13 sei von „vorhandenen“, „genannten“ und „akuten“ Mißständen die Rede, in Frage 8 von „beispielhaft “ angesprochenen Mängeln. Zum anderen hat das Gericht aus der Detailfülle der Fragen geschlossen, daß sie auf den Leser wie Behauptungen wirken müßten, die auf genaue Informationen oder Nachforschungen zurückgingen.

Auf den letzten Umstand kann der Behauptungscharakter der Fragen, wie oben dargelegt, nicht gestützt werden. Auch bei detailreichen Fragen kommt es für den Grundrechtsschutz nur darauf an, ob sie auf eine Antwort angelegt und für verschiedene Antworten offen sind. Die Umstände, die das Amtsgericht anführt, reichen zu einer Verneinung dieser Frage nicht aus. Zwar erweckt die Überschrift des Extrablatts beim unbefangenen Leser den Eindruck, daß Mißstände vorhanden und nicht bloß vom Herausgeber befürchtet seien. Auch wäre es mit Hilfe eines Fragezeichens unschwer möglich gewesen, den Fragecharakter der Gesamtveröffentlichung in der Überschrift deutlich zum Ausdruck zu bringen. Doch darf von der Überschrift eines Presseartikels nicht die unverkürzte Wiedergabe seines Inhalts verlangt werden. Ohne daß die Überschrift eines Artikels für dessen Verständnis bedeutungslos wäre, prägt sie doch den Gehalt weit weniger als der Text selbst.

Was die Einleitung zu dem Fragenkatalog betrifft, hat das Amtsgericht nicht hinreichend gewürdigt, daß in dem Extrablatt das Klärungsbedürfnis für die „Entwicklungen im letzten Jahr“ deutlich herausgestellt ist. Die Klärungsabsicht leitet auch den Satz ein, in dem Aufschluß verlangt wird, wie „vorhandene Mißstände“ behoben werden könnten. In diesem Zusammenhang ist es zumindest nicht ausgeschlossen, daß unter „vorhandenen Mißständen“ die aufgrund der Klärung zutage tretenden, also die etwa vorhandenen Mißstände zu verstehen sind. Die einzelnen vom Amtsgericht beanstandeten Fragen lassen trotz verschiedener definitiv klingender Passagen insgesamt nicht den Schluß zu, daß es dem Beschwerdeführer nicht um eine Antwort gegangen, sondern der Zweck bereits mit der Stellung der Fragen erreicht gewesen wäre. Selbst wenn dadurch nicht jeder Zweifel am Fragecharakter der Fragen 4 bis 10 und 12 ausgeräumt ist, so spricht doch jedenfalls der von Verfassungs wegen gebotene weite Meinungsbegriff gegen die Einordnung der Äußerungen als Tatsachenbehauptungen.

4. Die Verurteilung des Beschwerdeführers beruht auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Da der Fragenkatalog den Schutz dieses Grundrechts genießt, werden die Strafgerichte im Rahmen der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB zwischen den strafrechtlich geschützten Belangen des Ehrenschutzes und dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit abzuwägen haben. Dabei kann es, wie dargelegt, von Bedeutung sein, ob der Beschwerdeführer für die nach Ansicht des Amtsgerichts herabsetzendeb Tatsachenelemente in den beanstandeten Fragen Anhaltspunkte hatte. Jedoch dürfen die Anforderungen an derartige Anhaltspunkte nicht so bemessen werden, daß dadurch die Diskussion einer die Öffentlichkeit – wenn auch nur die lokale – wesentlich berührenden Frage verhindert wird oder ein abschreckender Effekt für den Gebrauch des Grundrechts auf Meinungsfreiheit entsteht.

Da das Oberlandesgericht die Revision ohne Begründung verworfen hat, leidet sein Beschluß an demselben Mangel wie das Urteil des Amtsgerichts.

(Unterschriften)

Via 5, 23.
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Weitere Fundstellen: BVerfGE 85, 23; NJW 1992, 1442; AfP 1992, 51; DVBl 1992, 357; NVwZ 1992, 766; ZUM 1992, 495.

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