Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Holger Hembach.
Entscheidungen in Fragen der Grundrechte sind niemals einfach. Besonders schwer sind sie dann, wenn verschiedene Rechte miteinander in Konflikt geraten, sich also beide Seiten eines Rechtsstreits auf ihre fundamentalen Rechte berufen können.
Eine typische Konstellation ist hier das Aufeinandertreffen von Meinungsfreiheit einerseits und dem Schutz der Persönlichkeit bzw. der Reputation andererseits. Die Äußerungs- und Meinungsfreiheit ist in Artikel 10 EMRK garantiert; sie kann aber unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt werden.
Der Schutz der Reputation ist nicht ausdrücklich in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt er sich aber aus dem Recht auf Respekt vor dem Privatleben nach Artikel 8 EMRK. Auch dieses Recht gilt nicht ohne Einschränkungen.
Wer sich über andere kritisch äußert oder Tatsachen verbreitet, die andere betreffen, kann sich grundsätzlich auf Artikel 10 EMRK berufen. Andererseits kann der Betroffene in vielen Fällen geltend machen, die Äußerung greife in seine grundrechtliche geschützte Reputation ein. Beide Parteien können Rechte nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ins Feld führen, die aber jeweils beschränkt werden können. Kommt es in einem derartigen Fall zum Rechtsstreit, müssen die nationalen Gerichte die widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägen. Sie müssen beurteilen, in welchem Umfang das Grundrecht des einen Beteiligten zugunsten des Grundrechts des anderen eingeschränkt werden kann.
Dabei unterliegen sie letztendlich der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser kann – wenn die formalen Voraussetzungen für eine Beschwerde gegeben sind – prüfen, ob die nationalen Gerichte der Europäischen Menschenrechtskonvention bei ihrer Entscheidung hinreichend Rechnung getragen haben.
Einen solchen Fall betraf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Verlagsgruppe News GmbH gegen Österreich (Urteil vom 25.10.2016). Die Verlagsgruppe News GmbH gibt das Magazin „Profil“ heraus. „Profil“ veröffentlichte im Jahre 2006 einen Artikel über immense Verluste bei der Hypo Alpe-Adria Bank, die zu 50% im Eigentum des österreichischen Staates stand. Der Beitrag setzte sich auch mit der Frage auseinander, ob die Bank über hinreichende interne Kontrollen und Mechanismen zur Vermeidung von Risiken verfügt hatte. In dem Artikel wurden dabei Aussagen des vormaligen Vorstandsvorsitzenden der Bank wiedergegeben, der behauptete, der Treasury-Manager der Bank, Herr Rauscher, habe die internen Richtlinien für Spekulationsgeschäfte nicht beachtet. In dem Artikel hieß es
„Der für die Transaktionen verantwortlich zeichnende Treasury-Manager Christian Rauscher wurde daraufhin umgehend von seinem Arbeitsplatz verbannt. (Der Sohn des ehemaligen SPÖ-Finanzlandesrats Max Rauscher war für profil für eine Stellungnahme nicht erreichbar.) Die Folgen der nur 14 Tage dauernden Spekulationsorgie beschäftigen die Bankführung aber bis heute“.
Der genannte Herr Rauscher war mit der Nennung seines Namens in dem Artikel nicht einverstanden. Er machte Ansprüche nach dem österreichischen Mediengesetz geltend. Dieses sieht vor, dass Namen von Personen, die einer strafbaren Handlung verdächtig sind, nur genannt werden dürfen, wenn daran ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht (vgl. § 7 a Mediengesetz). Wird der Name ohne ein solches öffentliche Interesse genannt, kann der Betroffene Schadensersatz verlangen (und diesen bei einem Strafgericht geltend machen).
Herrn Rauscher wurde Schadensersatz in Höhe von 3.000 € zugesprochen. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Wien hatte die Öffentlichkeit zwar ein Interesse daran, über die Verantwortlichen für die Situation der Bank informiert zu werden. Es wäre aber ausreichend gewesen, lediglich vom „Treasury Manager“ zu sprechen, ohne den Namen zu erwähnen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil.
Die Verlags News GmbH, die „Profil“ herausgibt, legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Sie machte geltend, die Verurteilung verletzte sie in ihrem Recht auf Äußerungsfreiheit.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft Verletzungen von Artikel 10 EMRK in zwei Schritten. Zunächst prüft er, ob ein Eingriff in das Recht auf Äußerungs- und Meinungsfreiheit vorliegt, ob also die Äußerungsfreiheit in irgendeiner Weise beschränkt worden ist. In einem zweiten Schritt setzt er sich dann mit der Frage auseinander, ob die Beschränkung gerechtfertigt war.
Wann dies der Fall ist, ergibt sich aus dem zweiten Absatz von Artikel 10 EMRK. Danach ist ein Eingriff in das Recht auf Äußerungsfreiheit gerechtfertigt, wenn er eine gesetzliche Grundlage hat und wenn er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.
Für den Gerichtshof bestand kein Zweifel, dass die Verurteilung zu einer Zahlung von 3.000 € einen Eingriff in das Recht auf Äußerungsfreiheit darstellte. Dies war im Verfahren auch von niemandem bestritten worden.
Bezüglich der Rechtfertigung sah der EGMR es als eindeutig an, dass es eine gesetzliche Grundlage dafür gegeben hatte. Einer ausführlichen Prüfung unterzog er lediglich die Frage, ob dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Dieses Kriterium beschreibt der Gerichtshof – vor allem seit dem Urteil im Fall „Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich“ dahingehend, dass für eine Beschränkung ein dringendes soziales Bedürfnis („pressing social need“) bestehen muss. Hier geht es also um eine Abwägung zwischen den Interessen desjenigen, dessen Rechte beschränkt werden, und dem Interesse der Allgemeinheit an der Einschränkung der Äußerungsfreiheit.
Dabei – wie überhaupt bei der Umsetzung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention – haben die Vertragsstaaten der EMRK einen bestimmten Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“). Das bedeutet, dass es in einem gewissen Grade ihnen obliegt, wie sie dafür sorgen, dass die Menschen in ihrer Hoheitsgewalt tatsächlich in den Genuss der Rechte kommen, die die Konvention garantiert. Es bedeutet auch, dass die Staaten selbst entscheiden können, welche Prioritäten sie setzen, wenn verschiedene Konventionsrechte miteinander in Konflikt geraten (von Hannover g. Deutschland, Urteil der Großen Kammer vom 07.02.2012, Rn 104).
Allerdings haben sie dabei keine völlig freie Hand. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte prüft immer noch, ob die Staaten innerhalb des Spielraums geblieben sind, der ihnen zusteht – oder ob sie diesen überschritten haben. Wie groß die „margin of appreciation“ der Vertragsstaaten der EMRK ist, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In bestimmten Gebieten, beispielsweise bei Fragen der Besteuerung, die im Zusammenhang mit dem Recht auf Eigentum eine Rolle spielen können, ist der Spielraum erheblich (N.K.M g. Ungarn, Urteil vom 14.05.2013, Rn 57). Dagegen ist er in der Regel gering, wenn es um Fragen des persönlichen Lebensbereichs geht (Dubska u. Krejzova g. Tschechische Republik, Urteil vom 11.12.2014 Rn 92).
Im Rahmen der Prüfung, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, ob ein „dringendes soziales Bedürfnis“ für diesen Eingriff bestand, berücksichtigt der EGMR dann auch die Interessen des Betroffenen, dessen Reputation beeinträchtigt worden ist. Dies allerdings nur dann, wenn der Eingriff in die Reputation eine gewisse Schwere erreicht hat. Ist diese erreicht, prüft der Gerichtshof, ob die nationalen Gerichte die beiden kollidierenden Rechte – also die Äußerungsfreiheit und das Recht auf Schutz der Reputation – in richtiger Weise innerhalb des Beurteilungsspielraums gegeneinander abgewogen haben. Hierzu hat der EGMR eine Reihe von Kriterien entwickelt:
• Trägt die Veröffentlichung zu einer Debatte bei, die im öffentlichen Interesse liegt
Dieses Kriterium liegt im Zweck der Äußerungsfreiheit begründet. Eine wesentliche Rechtfertigung der Äußerungsfreiheit ist es, die Darstellung verschiedener Standpunkte und Meinungen zu ermöglichen, damit sich die überzeugendsten Argumente im „Kampf der Meinungen“ durchsetzen können. Damit ist die Äußerungsfreiheit ein wesentliches Element einer Demokratie (von Hannover g. BR Deutschland, Urteil vom 24.06.2004, Rn 58). Die Schwelle für Beschränkungen der Äußerungsfreiheit muss daher höher angesetzt werden, wenn eine Äußerung einen Beitrag zu einer wichtigen öffentlichen Debatte liefert. Dagegen sind beispielsweise Klatsch oder andere Äußerungen, die vor allem der Unterhaltung dienen, weniger geschützt (vgl. beispielsweise Standard Verlags GmbH g. Österreich Nr. 2, Urteil vom 04.06.2009 Rn 52 betreffend Gerüchte über Eheprobleme des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten).
• Wie bekannt ist die Person, um die des geht, und was ist das Thema des Artikels
Hier geht es darum, dass jemand, der ohnehin schon im Licht der Öffentlichkeit steht, sich weitergehende Eingriffe in seine Privatsphäre oder Reputation gefallen lassen muss, als jemand, der bis dato weitgehend unbekannt war. Besonders deutlich wird das bei Politikern. Diese begeben sich bewusst in die Öffentlichkeit und haben sich damit bewusst entschieden, sich öffentlicher Kritik auszusetzen. Folgerichtig müssen sie dann auch mit öffentlichen Debatten über sich leben (Tammer g. Estland, Urteil vom 06.02.2001 Rn 62). Das Argument greift aber auch bei anderen Prominenten oder öffentlich bekannten Personen. Allerdings genießen auch Prominente eine Sphäre geschützten Privatlebens, vor allem gegenüber Berichterstattung, die lediglich die Neugierde oder Sensationsgier befriedigt (von Hannover g. Deutschland Nr. 2, Urteil der Großen Kammer vom 07.02.2012 Rn 103).
• Das frühere Verhalten der betroffenen Person
Bei einer Person, die aufgrund ihres Verhaltens ohnehin schon Gegenstand des öffentlichen Interesses ist, ist es eher gerechtfertigt, erneut über sie zu berichten.
• Die Methode, durch die die Information erlangt wurde und die Richtigkeit der Information
Hierbei geht es darum, dass zutreffende und oder zumindest gründlich recherchierte Informationen stärkeren Schutz genießen als bloße Behauptungen oder grundlose Spekulationen. Journalisten müssen bei ihren Äußerungen ein bestimmtes Maß an Sorgfalt walten lassen und ihre Äußerungsfreiheit steht unter der Bedingung, dass sie in gutem Glauben handeln um akkurate Informationen im Einklang mit den Grundlagen des Journalismus zu verbreiten (Rusu gegen Rumänien, Urteil vom 08.03.2016, Rn 24).
• Der Inhalt, die Form und die Konsequenzen der Publikation
Nach gefestigter Rechtsprechung des EGMR schützt Artikel 10 EMRK auch scharfe, provokative oder Anstoß erregende Äußerungen (Lingens g. Österreich, Urteil vom 08.07.1986 Rn 41). Dennoch sind Inhalt und Form ein Faktor, der bei der Abwägung zwischen Äußerungsfreiheit und Schutz der Reputation zu berücksichtigen ist. Beleidigende und unsachliche Aussagen, die keine hinreichende faktische Grundlage haben, unterfallen nicht der Äußerungsfreiheit (Genner g. Österreich, Urteil vom 12.01.2016, Rn 36). Dagegen spricht es für die Zulässigkeit einer Äußerung, wenn sie in sachlicher Form geäußert wird.
• Der Schwere der für die Veröffentlichung verhängten Sanktion
Wird für eine Äußerung eine Sanktion verhängt, bedeutet dies in aller Regel einen Eingriff in die Äußerungsfreiheit. Ob der Eingriff gerechtfertigt war, richtet sich auch danach, wie schwer die verhängte Sanktion war. Eine Strafe oder Schadensersatzpflicht für eine Äußerung hat nämlich häufig auch eine abschreckende Wirkung. Andere sind möglicherweise vorsichtiger mit ihren Äußerungen, wenn sie fürchten müssen, dass eine Behauptung gravierende Folgen haben könnte. Da dies auch eine Gefahr für die Meinungs- und Äußerungsfreiheit mit sich bringt, berücksichtigt der EGMR diesen sogenannten „chilling effect“ auch bei der Prüfung von Eingriffen in die Äußerungsfreiheit.
Auch das Verbot falscher oder ehrabschneidender Behauptungen kann deshalb einen Verstoß gegen Artikel 10 EMRK darstellen, wenn die Sanktion überhöht ist (beispielsweise hat der EGMR im Fall Tolstoy Miloslavski gegen das Vereinigte Königreich eine Verletzung der EMRK festgestellt, weil der Beschwerdeführer zu einem Schadensersatz von 1,5 Millionen Pfund verurteilt worden war – obwohl er fälschlich die Behauptung aufgestellt hatte, der Vorstandsvorsitzende einer Versicherung sei für Kriegsverbrechen verantwortlich gewesen). Andererseits bedeutet auch eine geringfügige Sanktion nicht notwendigerweise, dass ein Eingriff zulässig wäre. Auch kleine Geldbußen können einen „chilling effect“ haben (Rusu g. Rumänien, Urteil vom 08.03.2016 Rn 22). So ist der Gerichtshof im Fall Yilmaz Yildiz g. Türkei (Urteil vom 14.10.2014 – der Fall Betraf die Versammlungsfreiheit) davon ausgegangen, dass auch eine Buße von umgerechnet 60 € zu einem nicht gerechtfertigten Eingriff in die Äußerungsfreiheit führen kann.
Darüber hinaus zieht der EGMR in manchen Fällen noch zusätzliche Kriterien heran. Im vorliegenden Fall stellte er neben den üblichen Kriterien auch darauf ab, ob der Name des Betroffenen vorher an die Öffentlichkeit gedrungen war und ob sich der Autor des Beitrages auf einen offiziellen Bericht berufen konnte.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die „margin of appreciation“ des Staates bei der Beurteilung von Presseveröffentlichungen gering ist, wenn eine Publikation einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse leistet. Die Hypo Alpe-Adria Bank, die enorme Verluste erlitten hatte, hätte zur Hälfte im Eigentum des Landes Kärnten gestanden, so dass letztlich die Steuerzahler für die Verluste einzustehen hätten. Diese hätten daher ein berechtigtes Interesse, darüber informiert zu werden, wer zur Zeit der Entstehung dieser Verluste in der Bank Verantwortung getragen hätte. Herr Rauscher hätte eine Führungsposition innegehabt und sei für erhebliche Summen verantwortlich gewesen. Daher hätte es ein Interesse der Öffentlichkeit gegeben, seinen Namen zu erfahren.
Der Gerichtshof erkannte an, dass Herr Rauscher zuvor keine Person des öffentlichen Lebens gewesen war. Dies sei jedoch lediglich einer der Faktoren, die bei der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Schutz der Reputation zu berücksichtigen seien.
Zu berücksichtigen sei auch, dass die inhaltliche Richtigkeit des Berichts nicht in Streit stehe. Auch die Methode der Informationsgewinnung werde nicht in Zweifel gezogen.
Schließlich sei der Name des Betroffenen schon in die Medien gedrungen, bevor Profil ihn genannt habe. Hinsichtlich der Höhe der Buße hatte Österreich geltend gemacht, die Summe von 3000 € sei für einen Verlag gering. Der Gerichtshof wies dieses Argument zurück. Die Sanktion sei weder lediglich symbolisch noch unbedeutend.
In Hinblick auf diese Erwägungen stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Artikel 10 EMRK fest.
Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zahlreiche Kriterien entwickelt, die er bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz heranzieht. Dies suggeriert eine Präzision, die es in der Praxis nicht gibt. Denn letztlich sind alle diese Kriterien Teil einer Gesamtabwägung und müssen nicht sämtlich erfüllt sein. Darüber hinaus haben die nationalen Gerichte einen gewissen Spielraum – aber es ist schwer abzuschätzen, wie sich dieser im Einzelfall bemisst. Der Spiegel-Justitziar Uwe Jürgens hat vor Kurzem angemerkt, dass Entscheidungen im Presserecht besonders „abwägungsträchtig“ und „für subjektive Wertungen offen“ seien. Dies gilt auch auf der Ebene des EGMR. Als Faustregel mag gelten, dass sich fundierte, sachliche Berichterstattung zu einem gesellschaftlich relevanten Thema kaum beschränken lässt.
Die Entscheidung des EGMR im Volltext.
Rechtsanwalt Holger Hembach berät zur EMRK, Grund- und Menschenrechten.
Zur Website von Rechtsanwalt Holger Hembach.