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Urteil des EGMR im Fall Studio Monitori et.al. gegen Georgien

Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Holger Hembach

Art. 10 EMRK regelt die Freiheit der Meinungsäußerung. Nach Satz 2 der Vorschrift schließt dies die Freiheit ein, „Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe zu empfangen und weiterzugeben“. Es ist umstritten, ob sich hieraus ein Recht auf Zugang zu Informationen herleiten lässt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat dies lange Zeit abgelehnt. Im Fall Magyar Helsinki Bizottsag gegen Ungarn (EGMR, 08.11.2016 – 18030/11) hat die Große Kammer des Gerichtshofs jedoch die Position des EGMR zu dieser Frage modifiziert. Sie hat entschieden, dass sich aus Art. 10 ein Recht auf Zugang zu Informationen herleiten lasse, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Der kürzlich entschiedene Fall Studio Monitori und andere gegen Georgien (EGMR, 30.01.2020 – 44920/09, 8942/10) ist einer der ersten nach dem Urteil der Großen Kammer, in denen sich der Gerichtshof mit dem Recht auf Informationszugang nach Art. 10 EMRK auseinandergesetzt hat.

Sachverhalt

Das Urteil betrifft zwei Beschwerden, die der Gerichtshof zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hatte. Die erste Beschwerde war von einer Nichtregierungsorganisation (NGO) und einer Journalistin eingelegt worden, die zu den Gründungsmitgliedern der Organisation gehörte. Zweck der NGO war es, investigative journalistische Recherchen durchzuführen.

Die Beschwerdeführer hatten Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens gegen dritte Personen beantragt. Die Kanzlei des zuständigen Gerichts informierte sie, dass die Akte personenbezogene Daten über die Beschuldigte enthalte. Darüber hinaus befänden sich in den Akten auch Informationen, die mit einer Geheimhaltungsstufe versehen worden seien. Sie forderte die Beschwerdeführer auf, zu erläutern, warum sie Einsicht in die Akte nehmen wollten. Die Beschwerdeführer erhoben Klage auf Akteneinsicht. In der mündlichen Verhandlung erläuterte die Beschwerdeführerin, dass die Akteneinsicht einem journalistischen Rechercheprojekt diene. Sie führte dies jedoch nicht näher aus. Stattdessen verwies sie auf Art. 37 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes von Georgien. Dieser sieht vor, dass jeder das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen hat, unabhängig davon, in welcher Form sie gespeichert sind.

Der Beschwerdeführer im zweiten Fall war ein Rechtsanwalt, der eine Haftstrafe verbüßte. Er hatte aus dem Gefängnis heraus Kopien richterlicher Beschlüsse beantragt, durch die Untersuchungshaft angeordnet worden war. Die Beschlüsse betrafen sechs verschiedene Strafsachen, die keine Beziehung zum Fall des Beschwerdeführers hatten. Das Gericht stellte dem Beschwerdeführer lediglich Kopien der Beschlüsse zur Verfügung, in denen die Begründung nicht enthalten war. Der Beschwerdeführer begehrte gerichtlich Einsicht in die Kopien der vollständigen Beschlüsse. Auch er verwies auf Art. 37 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes. Die Klage wurde abgewiesen. Das Gericht stützte sich insbesondere auf Art. 3 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes, das vorschrieb, dass Art. 37 keine Anwendung auf die Justiz finde. Beide Beschwerdeführer legten Beschwerden beim EGMR ein. Sie machten geltend, ihr Recht auf Zugang zu den gewünschten Informationen ergebe sich aus Art. 10 EMRK.

Rechtliche Beurteilung

Zulässigkeit

Die Frage, ob sich aus Art. 10 EMRK ein Recht auf Zugang zu Informationen herleiten lässt, ist einerseits eine Frage über die Zulässigkeit der Beschwerde: Der Gerichtshof hat die Aufgabe, sicherzustellen, dass Staaten ihre Pflichten nach der EMRK erfüllen (Art. 19 EMRK). Folglich ist er nur dann für die Prüfung einer Beschwerde zuständig, wenn es darin um die Verletzung eines Rechts geht, das sich auch aus der Konvention ergibt. Daher war die Beschwerde nur dann zulässig, wenn das geltend gemachte Recht auf Informationszugang im konkreten Fall in den Anwendungsbereich der Konvention fiel. Andererseits betrifft die Frage, ob Art. 10 EMRK das Recht auf Zugang zu Informationen gewährt, den Kernbereich der Interpretation dieser Vorschrift. Der Gerichtshof beschloss daher, sich mit der Frage im Rahmen der Begründetheit auseinanderzusetzen.

Begründetheit

Der Gerichtshof hat lange Zeit die Auslegung zurückgewiesen, dass sich aus Art. 10 ein Recht auf Zugang zu Informationen ergebe. Im Fall Leander gegen Schweden (EGMR, 26.03.1987 – 9248/81) führte er aus:

„The Court observes that the right to freedom to receive information basically prohibits a Government from restricting a person from receiving information that others wish or may be willing to impart to him. Article 10 does not, in circumstances such as those of the present case, confer on the individual a right of access to a register containing information on his personal position, nor does it embody an obligation on the Government to impart such information to the individual.“
„Der Gerichtshof beobachtet, dass die Freiheit, Informationen zu empfangen es grundsätzlich eine Regierung verbietet, eine Person daran zu hindern, Informationen zu empfangen, die andere wünschen oder möglicherweise willens sind ihr zur Verfügung zu stellen. Art. 10 räumt einem Individuum, unter Umständen wie denen des gegenwärtigen Falles, kein Recht auf Zugang zu einem Register ein, dass Informationen über seine persönliche Position enthält, noch verkörpert es eine Verpflichtung der Regierung dem Individuum solche Informationen zur Verfügung zu stellen.“

Ausnahme 1 – Gerichtlich festgestellter Anspruch auf Erteilung der Information
Allerdings hat der Gerichtshof zunächst eine Ausnahme von diesem Grundsatz in Fällen zugelassen, in denen der Beschwerdeführer einen gerichtlich festgestellten Anspruch auf Zugang zu der gewünschten Information hatte und er die Informationen dennoch nicht erhielt. Danach verletzt es Art. 10 EMRK, wenn es ein rechtskräftiges Urteil auf Herausgabe von Informationen gibt und die zuständigen Behörden diesem Urteil nicht folgen. Beispielsweise hatte im Fall Youth Initiative for Human Rights gegen Serbien (EGMR, 25.06.2013 – 48135/06) eine NGO Informationen über den Gebrauch heimlicher Überwachungsmaßnahmen durch den serbischen Geheimdienst auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes angefordert. Der Geheimdienst wies den Antrag zurück. Die NGO erwirkte ein rechtskräftiges Urteil, das den Geheimdienst verpflichtete, die gewünschte Information zur Verfügung zu stellen. Der Geheimdienst gab die Informationen aber nicht heraus, sondern erklärte nun, er habe sie gar nicht. Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Ausnahme 2 – Informationen, die notwendig sind, um eine öffentliche Debatte zu ermöglichen
Im Fall Magyar Helsinki Bizottsag gegen Ungarn hat die Große Kammer des Gerichtshofs die Rechtsprechung des EGMR zum Zugang zu Informationen nach Art. 10 weiter modifiziert. Die Beschwerdeführerin in diesem Fall war eine NGO, die im Bereich der Justizreform tätig war. Sie führte ein Projekt durch, das darauf abzielte, die Qualität der Pflichtverteidigung zu verbessern. Im Rahmen dieses Projektes beantragte sie, ihr eine Liste mit Namen von Anwälten zur Verfügung zu stellen, die Verdächtigen bei deren Vernehmung durch die Polizei als Pflichtverteidiger vorgeschlagen hatten. Die Organisation hegte den Verdacht, dass die Polizei nicht die Liste der Anwälte benutzte, die die Rechtsanwaltskammer zur Verfügung gestellt hatte. Der Gerichtshof wies auf den steigenden internationalen Konsens bezüglich der Bedeutung des Rechts auf Zugang zu Informationen hin. Im Hinblick darauf stellte er fest, dass sich in bestimmten Fällen ein Anspruch auf Zugang zu Informationen aus Art. 10 ergeben könne. Hierfür stellte er vier Kriterien auf, die mit dem Ziel der Äußerungsfreiheit zusammenhängen, eine öffentliche Debatte über Themen zu ermöglichen, die im allgemeinen Interesse liegen. Die Kriterien sind deshalb miteinander verknüpft und überschneiden sich:

– Zweck des Zugangs zur Information
Der Zugang zu der gewünschten Information ist notwendig, damit der Antragsteller sein Recht ausüben kann, Informationen zu empfangen und zu verbreiten. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Zugang zur Information ein notwendiger Schritt bei der Vorbereitung journalistischer oder anderer Aktivitäten ist, die darauf abzielen, eine öffentliche Debatte zu ermöglichen.

– Art der gewünschten Information
Die gewünschte Information ist im öffentlichen Interesse. Das ist beispielsweise der Fall, wenn sie Transparenz bezüglich der Durchführung öffentlicher Angelegenheiten ermöglichen soll oder zu einer Debatte beiträgt, die die ganze Gesellschaft betrifft.

– Rolle des Antragstellers
Die Person oder Einheit, die die Information beantragen, spielen eine besondere Rolle bei der Führung öffentlicher Debatten, beispielsweise als Journalisten oder als NGOs, deren Aktivitäten Fragen im öffentlichen Interesse betreffen.

– Verfügbarkeit der Information
Die gewünschten Informationen sind bereits vorhanden und müssen nicht erst beschafft oder zusammengestellt werden.

Anwendung dieser Kriterien
Der Gerichtshof wandte diese Kriterien auf den Fall an und stellte keine Verletzung von Artikel 10 EMRK fest:

Bezüglich der ersten Beschwerdeführer führte er aus, dass diese die Informationen verlangt hatten, um eine öffentliche Diskussion zu ermöglichen. Die gewünschten Informationen seien jedoch für die Beschwerdeführer nicht notwendig gewesen, um ihr Recht auf Äußerungsfreiheit auszuüben. Während des innerstaatlichen Verfahrens hätten die Gerichte Ihnen die Möglichkeit gegeben, zu erklären, warum sie auf die Informationen angewiesen waren. Sie hätten diese Frage aber nicht beantwortet. Der Gerichtshof wies auch darauf hin, dass die Beschwerdeführer in der Lage gewesen seien, ihr Projekt ohne die gewünschten Informationen zu Ende zu bringen.

Bezüglich des Anwalts der Einsicht in die Gerichtsentscheidungen zu Untersuchungshaft verlangt hatten, führte der Gerichtshof aus, dass er – anders als etwa Journalisten oder bestimmte NGOs – keine gesellschaftliche Kontrollfunktion innehatte. Darüber hinaus habe auch er nicht erklärt, warum er die gewünschte Information wolle. Der Gerichtshof bezweifelte auch, dass die Information im öffentlichen Interesse gewesen sei. Daher führten die Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt habe, zu der Schlussfolgerung, dass die Verweigerung der gewünschten Informationen keinen Eingriff in die Äußerungsfreiheit darstellte.

Die Entscheidung des EGMR im Volltext (englisch).

Rechtsanwalt Holger Hembach berät zur EMRK, Grund- und Menschenrechten.
Zur Webseite von Rechtsanwalt Holger Hembach.

, Telemedicus v. 21.02.2020, https://tlmd.in/a/3479

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