Ein Gastbeitrag von Antonia Feneberg und Zoé Zloch
Das Verhältnis von Freiheit und Restriktion im Urheberrecht stand im Mittelpunkt einer zweitägigen Tagung, die Ende Februar im Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft stattgefunden hat. Ziel war es, eine interdisziplinäre Debatte über das Urheberrecht zu führen.
Aufhänger dafür waren Kipppunkte (sogenannte Tipping Points) des Urheberrechts. An ihnen sollte beispielhaft erörtert werden, wo das (Urheber-)Recht vor neuen Herausforderungen steht und wie dadurch auch Normsetzungsprozesse beeinflusst werden. Der Fachausschuss Urheberrecht der Gesellschaft für Musikwirtschafts- und Musikkulturforschung (GMM) organisierte die Tagung zusammen mit dem Weizenbaum-Institut.
Nachdem Simon Schrör, Doktorand am Weizenbaum-Institut, die Teilnehmenden begrüßt hatte, folgte eine Eröffnungsrede von Prof. Dr. Axel Metzger, LL.M. (Harvard), Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Principal Investigator am Weizenbaum-Institut. Metzger betonte die Aktualität und Politisierung des Urheberrechts. Daraufhin stellte Dr. Anita Jóri, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für zeitbasierte Medien an der Universität der Künste Berlin und Vorsitzende der GMM, die gemeinnützige Organisation GMM vor und leitete zu den ersten Themen über. Das Themenspektrum der Konferenz reichte dabei von der Werkqualität von TikTok-Videos bis zur rechtlichen Behandlung von Appropriation Art und umfasste insgesamt 15 Beiträge.
Die Vortragenden hatten jeweils 15 Minuten Zeit, ein vorher allen Teilnehmenden zur Verfügung gestelltes Working-Paper zu präsentieren. Im Anschluss bot sich 30 Minuten lang die Gelegenheit, im Plenum zu diskutieren. Um die Debatte zu lenken, begann der Austausch jeweils mit einem speziell für den jeweiligen Beitrag vorbereiteten Kommentar aus dem Teilnehmendenkreis. Auf diese Art wurden die ausgemachten Tipping Points aus musikwissenschaftlicher, soziologischer und juristischer Perspektive erörtert. Im vorliegenden Bericht sollen die diskutierten Tipping Points noch einmal zusammengetragen werden.
Die #Digitalisierung stellt das #Recht vor neue Herausforderungen: Principal Investigator Axel Metzger | @HumboldtUni eröffnet unsere zweitägige interdisziplinäre Fachtagung zum Thema "Tipping Points – Zum Verhältnis von Freiheit und Restriktion im #Urheberrecht". pic.twitter.com/SKlZmCClaN
— Weizenbaum-Institut (@JWI_Berlin) February 20, 2020
Kleine Münze, große Fragen. Schöpfungshöhe im Lichte neuer musikwissenschaftlicher Erkenntnisse.
Dr. Daniel Müllensiefen, Musikpsychologe, Lehrbeauftragter am Goldsmiths College der University of London und Musikgutachter und
Dr. phil. Dipl.-Phys. Klaus Frieler, Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und Musikgutachter
Vor allem in der Popmusik würden ähnliche Melodien einen Wiedererkennungswert generieren. Dabei seien besonders Intervalle relevant. Diese seien oft schon bekannt, könnten aber individuell kombiniert werden. Dafür müsse es für die Erfassung von Individualität eine höhere Messlatte geben, schlugen die Vortragenden vor. Die Kleine Münze des Urheberrechts sei ungenügend. Vorstellbar sei eine unparteiliche Clearingstelle für Musikgutachten.
Schwetter kommentierte, dass bei aller Kritik die Frage nach einer Alternative beantwortet werden müsse. Hätten wir heute Rockmusik, wenn Jimmy Hendrix „seinen Sound hätte patentieren lassen“? Ziel solle es sein, lebendiges Kreativschaffen zu ermöglichen. Angesichts von durch KI-Systeme generierten Melodien stelle sich außerdem die Frage, ob und wie nachgewiesen werden soll, dass ein Werk vom Mensch oder Computer erstellt wurde. Dabei sei zu beachten, dass selbst bei computergenerierten Werken noch eine Selektion durch den Menschen erfolge. Zudem sei mittlerweile die sogenannte Musikpersona als neue Dimension hinzugetreten, beispielsweise David Guetta, dessen Name als DJ mit auf den Platten stünde. Mit der Musikpersona gewinne nebst Inhalt auch die Präsentation an Relevanz. Ihr rechtlicher Schutz bleibt noch zu bestimmen.
Neue Versionen, neue Urheber?
Jun.-Prof. Dr. Miriam Akkermann, Musikwissenschaftlerin und Juniorprofessorin für Empirische Musikwissenschaft an der TU Dresden
Computermusik und elektroakustische Musik stellen Musik- und Rechtswissenschaftler*innen im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung vor neue Herausforderungen. Problematisch erweist sich die Zuordnung von Codes der Computermusik aufgrund der verschiedenen Schritte bis zum digitalen Werk. Probleme ergeben sich hierbei insbesondere bei der Archivierung der Computermusik, da das Stück grundsätzlich den Komponist*innen zugeschrieben werde. Lediglich selten sei ausgewiesen, dass ein Großteil des Werkes von Wissenschaftler*innen stamme. Deswegen müsse der geschützte Code, welcher lediglich dem*der Urheber*in zusteht, transferiert bzw. in Programmiersprache übersetzt und nicht archiviert werden.
Wie also damit umgehen: Bedarf es deswegen eines neuen digitalen Werkbegriffs? Geht der starke Werkbegriff verloren? Ob es der Erhaltung des Werkes oder einer Übersetzung des Codes in neue Technik bedarf, ist umstritten. Einig waren sich die Teilnehmenden jedoch in der Feststellung, dass die Übersetzungsleistung gestärkt werden müsse. An diesem Tipping Point angelangt, bedürfe es nun einer Stärkung von Übersetzungsleistungen und einer Aufspaltung der Urheberschaft bis hin zu einer neuen Kategorie der digitalisierten, aktualisierten Werke.
Geteilte nutzergenerierte Inhalte als Herausforderung für das Urheberrecht – Analyse der Medienplattform TikTok
Jonas Kunze, Jurastudent an der Freien Universität Berlin und studentischer Mitarbeiter bei Telemedicus.info und
Ass. iur. Hans-Christian Gräfe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Promotion am Weizenbaum-Institut
Im Vordergrund stand die Frage, ob und ab wann ein Clip auf TikTok Werkqualität erreichen könne und welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nicht sämtliche auf TikTok verwendbare Musik auch lizenziert worden sei. Die Diskussion bezog sich insbesondere auf die freie Benutzung und das Zitatrecht in kunstspezifischer Auslegung: Können TikTok-Clips nach aktueller Rechtslage demnach als freie Benutzung oder Zitat anzusehen sein? Einer Ansicht nach sei dies zu bejahen, wenn auf das Lied und seine Lyrics im Sinne eines Pastiches eingegangen werde. Dem entgegnete Gräfe, dass auch solch eine Bearbeitung erst bei eigenständigem Schöpfungswert geschützt werden solle. Vielmehr müsse für die Bewertung an § 24 UrhG festgehalten werden. Dabei stelle die (künftige) Neuregelung bzw. der Umgang mit § 24 UrhG einen Tipping Point dar.
In ihrem Vortrag sprechen unser Wissenschaftler Hans-Christian Gräfe | @haenselbert und Jonas Kunze über geteilte nutzergenerierte Inhalte als Herausforderung für das #Urheberrecht und analysieren in diesem Zusammenhang die Medienplattform #TikTok. @HumboldtUni @jwi_riot pic.twitter.com/WvStKnAxw0
— Weizenbaum-Institut (@JWI_Berlin) February 20, 2020
Nach dem geistigen Eigentum: Neue Geschäfts- und Rechtsmodelle
Prof. Dr. Thomas Ernst, Germanist und Literaturwissenschaftler an der Universität Antwerpen sowie an der Universität von Amsterdam
Das Problem des sich wandelnden Werkbegriffs stelle nicht nur die Musik, sondern auch die Literaturwissenschaft vor neue Herausforderungen. Denn es entwickeln sich neue Versionen von Werken, wie zum Beispiel Fan-Fiction, sogenannte Twitteratur oder die Erstellung von Texten durch Crowdfunding. Die ursprüngliche Konstruktion des geistigen Eigentums auf starke Autor*innenschaft und festgelegte Werke müsse somit in Frage gestellt werden. Sie kann im Kontext der Netzliteratur nicht mehr aufrechterhalten werden.
Zentral erweise sich die Stellung der Prosument*innen, den Konsument*innen von digitaler Literatur, die zugleich zu deren Entstehung als Produzent*innen beitragen. Welche Rolle nehmen die einzelnen Nutzer*innen in diesem Zusammenhang ein? Die gemeinsame Diskussion ergab, dass das aus der Rolle der Prosument*innen resultierende Urheberpersönlichkeitsrecht und dezentrale Vertriebsmodelle in den Vordergrund gerückt werden müssten.
Kipppunkte in der Rechtsentwicklung: Zur Situation von Low-Budget Musiker*innen im Spannungsfeld von Verwertungsinteressen und Drittnutzung
Simon Schrör, M.A. (Soziologie), Wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Promotion am Weizenbaum-Institut/HU Berlin und
Ass. iur. Sophie Beaucamp, LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiterin zur Promotion am Weizenbaum-Institut/HU Berlin
Schrör und Beaucamp erklärten, dass drei systematische Voraussetzungen für einen erfolgreichen Song bestehen würden: Zum einen müsse er den jeweiligen künstlerischen Anforderungen entsprechen. Hierbei könne Sampling eine künstlerische Notwendigkeit sein. Desweiteren solle das Werk wirtschaftlich profitabel sein, wobei für Low-Budget Musiker*innen ein Sample-Clearing praktisch unmöglich sei. Und zuletzt bedürfe es für die Verwertung einer rechtlichen Absicherung. Hierbei seien die “Metall-auf-Metall”- Urteile (EuGH NJW 2019, 2913 Rn. 39 – Metall auf Metall) sowie Artikel 17 der DSM-Richtlinie zu beachten. Als fraglich erweise sich, ob die Zitatschranke diese drei Aspekte in ein Gleichgewicht bringen könne. Um nicht bloß auf das Zitatrecht zu rekurrieren, wurden das Kartellrecht, vertragliche Fragen und Clearing in Verbindung mit Weiterbildung für Low-Budget Musiker*innen in Betracht gezogen.
Kipppunkte in der Rechtsentwicklung: Unsere Wissenschaftler @SimonSchroer und Sophie Beaucamp | @HumboldtUni erörtern in ihrem Vortrag die Situation von LowBudget Musiker*innen im Spannungsfeld von Verwertungsinteresse und Drittnutzung. #tippingpoints pic.twitter.com/n9nRoSK3Iz
— Weizenbaum-Institut (@JWI_Berlin) February 20, 2020
Der Markt für Musik-Samples und die Kommodifizierung flüchtiger Objekte
Konstantin Hondros, M.A. (Soziologie), Promovend und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen
Wie Musiksamples als Waren auf Märkten verstanden werden können, erläuterte Hondros. Eine Angleichung von Recht und Musikpraxis wurde erstmals durch die langwierige Prozessgeschichte der Rechtsprechung zu „Metall auf Metall“ erreicht. Festgelegt wurde, dass Sampling an sich nicht als rechtsverletzende Handlung gesehen werden kann.
Dennoch bestünden weiterhin Unsicherheiten bei Samples, die einen kreativen Umgang mit vorderbestehendem Material annehmen lassen. Diesbezüglich bedürfe es zunächst der Klärung der Werkqualität dieser Samples – welchen Wert habe beispielweise der sogenannte kuratorische Moment des Samplens? Ziel müsse eine Modernisierung des Samplingregimes sein, hin zu einem System, welches faire Bedingungen für alle biete, ergab die gemeinsame Diskussion.
Metallene Klänge als Wendepunkt der Urheberrechtsdebatte
Dario Haux, Promovend und Wissenschaftlicher Assistent an der Juristischen Fakultät der Universität Luzern
Das BVerfG-Urteil zu “Metall auf Metall” war Ausgangspunkt für eine Diskussion über den dort genannten digital-„gesellschaftlichen Raum“. Unter den Tagungsteilnehmenden blieb umstritten, ob der Raumbegriff an sich schon ungeeignet sei, da es sich um Kommunikationsstrukturen handele. Einschlägiger könne ein Netzwerk-Begriff sein, welcher mit den digital humanities einhergeht, schlug Ernst vor.
Auf Habermas verweisend schlug ein Tagungsgast den Begriff der Public Sphere vor, in der Werke als Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung wirkten.
In der Diskussion fiel auf, dass teilnehmende Jurist*innen meist von einem Hausrecht sprachen, während Soziolog*innen ein eher sozial-relationales Raumverständnis verwendeten. Zudem regte Boehm an, sich bei diesem Thema auch internationaler Literatur zu bedienen. Schwetter schlug einen vergleichenden Blick auf historische Ursprünge des Urherberrechts vor.
Appropriation Art: In Zeiten von „Metall auf Metall“ und des Internets
Christian Czychowski, Rechtsanwalt bei NORDEMANN und Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam
Sogenannte Appropriation Art, also die bewusste und mit Überlegung vorgenommene Übernahme fremder Werke in eigene Werke, sei dem Urheberrecht seit jeher bekannt. Czychowski erklärte, dass auch sie mit wachsenden digitalen Möglichkeiten zunehme. Die rechtliche und richterliche Bewertung sei dennoch nach wie vor nicht ausreichend, um alle Fragen abzudecken. Vor allem die Anwendung der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG durch das BVerfG werde vom EuGH kritisiert. Die Weiterverwertung von künstlerischen Werken zur Schaffung eigener, neuer Appropriation Art müsse jedoch einheitlich geregelt werden. Es bedürfe deshalb zur rechtlich zulässigen Verwertung von Appropriation Art einer generelleren Regelung einschließlich der Abwägung der einschlägigen Grundrechte. Czychowski sieht in diesem Kontext auch die digitalen Netzwerke in der Verantwortung, denn auch die Rolle der Nutzer*innen habe sich verändert. Im Datenschutzrecht spreche man bei mit der Appropriation Art vergleichbaren Sachverhalten von privacy by design (Datenschutz durch Technikgestaltung) – wie wäre es hier mit Copyright by design (sinngemäß Urheberrecht durch Technikgestaltung) für die Nutzer*innen?
1933/1945/2012 – Konflikte zwischen „Musikverbrauchern“
Malte Zill, M.A. (Musikwissenschaft), Promovend an der Universität Hamburg
Zills Prämisse war, dass sich Konflikte zwischen Musikkonsument*innen aufgrund rechtlicher Unsicherheiten unter verschiedenen Ideologien möglicherweise wiederholen könnten. Diskutiert wurde, ob sich die Vorwürfe bezüglich der GEMA als berechtigt erwiesen, weil sich die Kritik von 1933, 1945 und 2012 aufgrund ihrer Ähnlichkeit gegenseitig bestätigte. Hierbei meinte Metzger, dass zwar einzelne Punkte wie die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft bei der GEMA verbesserungswürdig seien. Jedoch sei die Fundamentalkritik nicht haltbar.
Wenn die Problematik der GEMA primär in ihrer Monopolstellung bestünde, so wurde diskutiert, könne dem durch Aufspaltung in ein Inkasso-Unternehmen und konkurrierende Gesellschaften abgeholfen werden. Bemerkenswert sei, dass sich die Modalität politischer Verhandlung von juristischen Problemen sehr ähnele: Die Politik greife die Probleme auf, verändere aber nicht die Situation.
Intermediary liability: Öffentlichkeitstheorie und das Gesetzgebungsverfahren rund um Art. 17 EU-Copyright-Directive
Ass. iur. Amélie P. Heldt, maître en droit, Wissenschaftliche Mitarbeiterin zur Promotion am Leibniz-Institut für Medienforschung
Das Thema der ganzen Tagung waren Tipping Points. Wie Tipping Points rechtswissenschaftlich auszulegen sind, untersuchte Heldt. Was mache Tipping Points aus? Wie würden sie bestimmt? Und wie käme es zu Normen wie Art. 17 der DSM-Richtlinie?
Tipping Points bezeichneten Wendepunkte in jeglicher Form von Prozessen, über die hinaus eine signifikante Wirkung oder Veränderungen stattfinde. Die Legislative müsse dabei jedoch nicht grundsätzlich tätig werden. Dies läge vielmehr in ihrer Einschätzungsprärogative und geschehe zumeist, wenn der Bedarf nach stärkerer Institutionalisierung erkennbar sei.
Bei der DSM-Richtlinie wurde der Diskurs maßgeblich von den Nutzer*innen übernommen. Ob und wie sich dabei eine neue europäische Öffentlichkeit formte, blieb jedoch umstritten. Die Debatte um die Richtlinie könne nicht als Beleg für diese neue Form der Öffentlichkeit genutzt werden, stellte die Referentin fest. Dennoch führe das Verbreitern der Diskussion auf u.a. Nutzer*innen von sozialen Netzwerken und Großkonzerne in Form einer gemeinsamen Debatte zu einem gesellschaftlich präsenteren Rechtsverständnis und Austausch. Retrospektiv habe sich dadurch die öffentliche Debatte, nicht aber der Prozess der Rechtsetzung an sich, verändert.
Gemeinfreiheit, Kontrolle, Kooperation und Kulturallmende – Uploadfilter schaffen neue Tipping Points in der Kulturindustrie
Marion Goller, Rechtsanwältin in der Media Kanzlei Frankfurt
Goller stellte drei von sogenannten Uploadfiltern verursachte Tipping Points fest. Dabei fragte sie auch, wie gefährlich es sei, wenn Nutzer*innen die neue Infrastruktur als nicht so invasiv empfinden, wie sie aber unter Umständen sei. So werde „Sperre statt Mahnung“ als erleichternd empfunden. Rack überlegte, ob durch den Einsatz von Filtern transformative Nutzungsformen auf Schattenplattformen ausweichen könnten. Jedenfalls könnte Handeln in den großen Graubereichen zwischen erlaubter und verbotener Nutzung künftig stark erschwert sein. Die Freiheit, auch rechtswidrig zu handeln, habe aber einen Wert an sich (s. Becker, Von der Freiheit, rechtswidrig handeln zu können, ZUM 2019, 636.). (Selbst-)Kritisch wurde darüber hinaus überlegt, ob Protestgruppen versäumten, für mehr Einflussnahme – insbesondere bezüglich der Content ID – zu kämpfen. Offen blieben rechtliche Fragen, z.B. ob Overclaiming eine Ordnungswidrigkeit darstellen sollte.
Zweiter Tag unserer Fachtagung #TippingPoints – Zum Verhältnis von Freiheit und Restriktion im #Urheberrecht: @MarionGoller erläutert in ihrem Vortrag, wie #Uploadfilter neue Kipppunkte in der Kulturindustrie schaffen. pic.twitter.com/9HpKjs1kSB
— Weizenbaum-Institut (@JWI_Berlin) February 21, 2020
Musikwissenschaft und Urheberrecht
Dr. Georg Fischer, Musikwissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin
Wer darf wieviel von anderen Objekten kopieren, fragte Fischer sich selbst und das Auditorium. Schon lange ergäben sich Diskurse um die technische Reproduzierbarkeit von musikalischen Werken. Das Zusammenspiel von Musikwissenschaft und Urheberrecht bedürfe einer neuen Bewertung in Bezug auf Samples. Diese dürften die verschiedenen shades of referentiality von Samples nicht abstrakt als eigene Elemente denken, sondern mehrheitlich als Kontinuum. Die gewünschte Referenz bei Samples sei oftmals schlecht zu erkennen, woraus Spannungen resultierten.
Aufgrund dessen wurden kreative Umgehungsstrategien entwickelt. Die Praxis der Umgehung urheberrechtlicher Probleme, also die Umgehungskreativität, stelle nicht nur in Bezug auf Samples ein eigenes Feld dar und wurde bisher systematisch noch nicht aufgearbeitet. Vergleichbar sei dies mit der Schattenbibliothek Sci-Hub oder dem Hashtag #icanhazpdf. Auch diese seien Indikatoren für die Umgehungskreativität, da sie den Zugang zu wissenschaftlichen Texten erleichterten und indirekt Open-Access-Praktiken fördern würden. Ziel der kreativen Umgehungsstrategien sei, dass die Reproduktionshoheit von Wissenschaftler*innen bzw. Musiker*innen über ihre Werke wiederhergestellt würde. Die Diskussion drehte sich im Anschluss darum, welche Rolle Open Access in der Zukunft spielen würde. Schließlich könne Open-Access-Publizieren vieles verändern und erleichtern.
NFDI4Culture: Das Recht im Forschungsdatenzyklus – Sammeln, Aufbereiten, Veröffentlichen
Prof. Dr. iur. Franziska Boehm, Bereichsleiterin beim FIZ Karlsruhe – Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur und Professorin am Karlsruher Institut für Technologie,
Dr. Matthias Pasdzierny, Musikwissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin,
Fabian Rack, Rechtsanwalt bei iRights.Law und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am FIZ Karlsruhe, Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur
Die Referierenden stellten den Bedarf nach wissenschaftlicher Dateninfrastruktur im Kulturbereich vor und behandelten den damit verbundenen Interessensausgleich.
Es gebe beispielsweise für eine Open-Access-Veröffentlichung der Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe Verhandlungen mit einem Musik-Verlag. Hierbei sorge sich der Verlag um sein Geschäftsmodell, zumal der Markt noch sehr konservativ sei. Als (Zwischen-)Lösung käme laut Pasdzierny die Open-Access-Veröffentlichung einzelner Snippets in Betracht. In öffentlichen Bibliotheken sei die Gesamtausgabe ohnehin zugänglich. Diesen Ansatz lehnte Frieler ab, da es für Forschende nicht ausreiche, (digital) nur mit Snippets zu arbeiten.
Aus wissenschaftlicher Sicht sei auch die Nachnutzung der Korpora wichtig, die keinen urheberrechtlich geschützten Genuss der Kulturgüter darstellen, so Döhl.
Der Anspruch, wissenschaftliche Ergebnisse an die Gesellschaft zurückzugeben, stehe dem Urheberrecht mit seiner einschränkenden Funktion gegenüber, meinte Frieler. Dafür wären auf Ebene der Verwertungsgesellschaften Spezialtarife für die wissenschaftliche Nutzung von Kulturgütern denkbar.
Nutzung der Schattenbibliothek Sci-Hub in Deutschland
Dorothea Strecker, Masterstudentin der Information Sciences an der HU Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „re3data“
Die Markteigenschaften des wissenschaftliche Publikationssystems steckten in der Krise, begann Strecker. Durch zunehmende Popularität rückten Schattenbibliotheken mehrheitlich in den Fokus der Forschung. Schattenbibliotheken seien frei zugängliche Volltextdatenbanken im Internet, welche regelmäßig gegen das Urheberrecht verstießen. Sie gewännen an Popularität durch teure sogenannte paywalls (Bezahlschranken) für wissenschaftliche Texte, welche unter anderem aus der Oligopolisierung des Zeitschriftenmarktes resultieren würden. Ziel der Schattenbibliotheken sei der einfache Zugang zu wissenschaftlichen Texten. Es handele sich um eine Art automatisierte, technisch delegierte Umgehungsstrategie. Über zwei Drittel der Literatur seien über den „Marktführer“ Sci-Hub verfügbar. Fraglich sei und bleibe dabei aber, ob sich Strategien zur Bekämpfung von Schattenbibliotheken negativ auf legale Angebote auswirken werden. Hondros ergänzte, dass der wissenschaftliche Publikationssektor ein besonders lukrativer Ort sei. Insbesondere die paywalls in den Rechtswissenschaften würden eine erhöhte Nachfrage von Open-Access-Publikationen hervorrufen.
Musikindustrielle Perspektiven: Die EU-Urheberrechtsrichtlinie wird das Internet verändern – zum Guten
René Houareau, Syndikusanwalt und Geschäftsführer Recht und Politik des „Bundesverband Musikindustrie“ (BMVI)
In der von der Marktkapitalisierung geprägten Industrie gehe es weniger um Sperren als um Monetarisierung, stieg Houareau ein. Eine kuratierende Plattform sei wie ein aktiver content provider zu sehen und müsse daher lizenzieren. Ein notice and stay down Verfahren wäre im Gegensatz zum derzeit betriebenen notice and take down Verfahren effektiv, beantworte aber noch immer nicht richtig die Frage der Haftungsverteilung.
Bei der DSM-Richtlinie wäre eine nach Werkkategorie differenzierende Regelung grundsätzlich angebracht gewesen, um die Haftungslage bei den Plattformen planbarer zu machen. Nun läge der Schwerpunkt umso mehr auf einem effektiven dispute management.
Den gemeinsamen Austausch durch die Veranstaltung wie auch ihr Format werteten alle Teilnehmenden als Erfolg. Das abwechslungsreiche Programm mit wichtigen Inputs aus unterschiedlichen Branchen und Disziplinen führte zu einem aufgeschlossenen und lebhaften Diskurs. Trotz bereits großzügiger Zeiteinteilung für die Diskussion, konnten einige der aufgeworfenen Fragen im Plenum nicht gelöst werden. Dies bestätigt allerdings nur die Notwendigkeit eines weiteren, interdisziplinären Forums zu urheberrechtlichen Fragen in der Digitalisierung. Hierbei ist es wichtig, einen Diskurs mit aktivem Austausch verschiedener Ansätze anderer Disziplinen zu fördern, um der Gefahr vorzubeugen, dass disziplin-spezifische Paradigmen, Konzepte und Perspektiven nicht bloß parallel zueinander präsentiert werden. Dafür könnten in Zukunft ggf. bereits alle Paper in interdisziplinärer Zusammenarbeit erarbeitet werden.
Wünschenswert wäre auch, dass zukünftige Panels, wenn möglich, diverser aufgebaut werden. Als positiv ist dagegen die Altersspanne der Teilnehmenden hervorzuheben, die von Nachwuchswissenschaflter*innen bis hin zu habilitierten Professor*innen reichte. Insgesamt ist also auf eine zeitnahe und bestenfalls regelmäßige Fortsetzung dieses Diskussionsforums zu hoffen. Denn die urheberrechtlichen Tipping Points zur Wechselwirkung von Digitalisierung und Gesellschaft bleiben spannend, aktuell und hoch relevant. Für alle an den Tagungsergebnissen Interessierten wird es einen Open-Access-Tagesband geben. Darin sollen die – nach der Tagung weiterentwickelten – Workingpaper veröffentlicht werden.