Stefan Niggemeier hat gewonnen – zumindest beinahe. Callactive, die umstrittene Veranstalterin von ebenso umstrittenen Call-in-Shows im Fernsehen, hat eine ihrer Klagen gegen Niggemeier zurückgezogen (vor dem OLG Hamburg) und eine zweite verloren (vor dem AG München).
Das ist insofern schade, als wir auf eine höherinstanstanzliche Entscheidung zu den Streitfragen, die der Fall aufgeworden hatte, nun noch etwas länger warten müssen. Schade ist es auch insofern, als Niggemeier und Callactive sich bei den Kosten in der Mitte getroffen haben: Jeder trägt die eigenen Anwaltskosten, die Gerichtskosten werden 50:50 geteilt. Denn Niggemeier hätte hier m.E. auch vollständig obsiegen können.
Das Urteil des AG München (Az. 142 C 6791/08) ist dafür äußerst lesenswert. Soweit die Auszüge, die Niggemeier in seinem Blog veröffentlicht hat, vorliegen, argumentiert das Gericht stringent. Es orientiert sich dabei an zwei zentralen Streitpunkten, die wir auch auf Telemedicus diskutiert hatten: Zum einen der Reichweite der zumutbaren Prüfungspflichten in Blogs, zum anderen der Bedeutung der Meinungsfreiheit .
In Bezug auf die Haftung von Niggemeier wählt das AG München beinahe schulmäßig die klassische Argumentationslinie: (1.) Stefan Niggemeier kann nur als Störer haften, nicht als Täter oder Teilnehmer, (2.) als Störer haftet nur, wer Prüfungspflichten verletzt hat, (3.) Prüfungspflichten bestehen aber nur insoweit, als diese zumutbar sind. Eine generelle Vorab-Kontrollpflicht von Kommentaren sei aber nicht mehr zumutbar, führt das Gericht aus:
Fordert man aber, dass der Forenbetreiber sein Geschäft so einschränken muss, dass die strengstmögliche Überwachung, nämlich die Vorab-Zensur, zumutbar wird, so gibt man das Kriterium der Zumutbarkeit letztlich auf. Die Zumutbarkeit der Prüfungspflichten richtet sich dann nicht nach dem „Geschäftsmodell”, sondern das „Geschäftsmodell” hat sich dann nach den Prüfungspflichten zu richten. Der BGH hat aber in den genannten Entscheidungen ausdrücklich darauf verwiesen, dass Überwachungsmaßnahmen, welche das Geschäftsmodell in Frage stellen, nicht gefordert werden können.
Für das „Geschäftsmodell Blogs“ sei eine generelle Vorab-Kontrolle jedoch unzumutbar: Soweit Prüfungspflichten zumutbar gewesen seien, sei Niggemeier ihnen nachgekommen. Er hafte somit nicht als Störer, ein Unterlassungsanspruch bestehe nicht.
In der Abwägung zum Ausmaß der „Zumutbarkeit“ berücksichtigt das Gericht ebenso das Gewicht der Meinungsfreiheit:
„Auch bei der Beurteilung der Weite der Prüfungspflicht sind die Grundrechte der Meinungsfreiheit der Nutzer, deren Äußerungen dem Forenbetreiber zugerechnet werden sollen, und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der von den Äußerungen Betroffenen miteinander abzuwägen, da die Frage, ob ein Kommentar erst nach einer Vorab-Zensur veröffentlicht werden darf, auch die geschützte Meinungsfreiheit betrifft. Hierbei ist zu bedenken, dass zwangsläufig auch zulässige Meinungsäußerungen erfasst würden. (…)
Auch die Kommentarfunktion des Beklagten zu seinen Artikeln, mit denen er ja Diskussionen anstoßen will, lebt von ständigem Austausch der Nutzer. Oft werden auf den größeren Internetportalen zu neuen, brisanten Themen zahlreiche Kommentare und Antworten auf diese Kommentare in wenigen Stunden geschrieben. Durch eine notwendige Vorabprüfung würde der vom Verfassungsgeber gewünschte, wohl zum Großteil nicht rechtsverletzende Meinungsaustausch „abgewürgt” (…).“
Bei dem lebhaften Bild des „Abwürgens“, das das AG München hier wählt, drängt sich die Parallele zum Begriff des „Chilling Effect“ auf, der in solchen Fällen im US-Recht Anwendung findet. Auch die Argumentation läuft hier parallel zum US-Recht: Das Gericht argumentiert mit den „abkühlenden“ Effekten, die so enge Prüfungspflichten auf die Meinungsfreiheit hätten, letztlich also mit deren status positivus. Benjamin Küchenhoff hatte noch so formuliert:
„Wird die Meinungsäußerungsfreiheit von allzu vielen Kontrollerfordernissen eingeschränkt, verliert sie allmählich ihre Wirkung, weil jeder, der sich äußern will, Angst vor den Konsequenzen hat. Nicht ohne Grund verbietet das Grundgesetz in Art. 5 Abs. 1 S. 3 die „Zensur“, also die staatliche Vorabkontrolle von Meinungsäußerungen. Eine Rechtslage, welche die nicht-staatliche Selbstkontrolle zur Abwendung finanzieller Konsequenzen einfordert, kommt der staatlichen Zensur im Ergebnis schon ziemlich nahe.“
Insofern ist das Urteil m.E. vollständig zu begrüßen, zwingend und fehlerfrei subsummiert. Es ist schade, dass Stefan Niggemeier sich davon nicht überzeugen lassen hat, den Rechtsstreit weiterzuführen. Andererseits: Wer will es ihm verdenken, dass er seine Schlachten nicht in Gerichtsälen schlagen will, sondern in der Blogosphäre.
Was mich allerdings wundert: Meines Wissens hat Stefan Niggemeier in seinem Blog-Eintrag von gestern zum ersten Mal erwähnt, dass er auch in München verklagt wurde. Dass er dort gewonnen hat, weiß er seit „Anfang Juni“ – seine Leser nicht.
Die Auszüge des Urteils bei Stefan Niggemeier.
Telemedicus zur Haftung für Blog-Kommentare.