Lesenswerter Artikel im e-comm-Blog:
Der EGMR hat in zahlreichen Fällen nationale Regelungen oder Entscheidungen wegen ihres abschreckenden Effekts (chilling effect) auf die Ausübung des journalistischen Berufs als unzulässigen Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK beurteilt (…). Zudem hat der EGMR manche von Beschwerdeführern verlangte positive Verpflichtungen zum Schutz insbesondere der Ehre oder der Privatsphäre unter Hinweis auf die abschreckende Wirkung, die solche Maßnahmen auf zulässige Meinungsäußerungen haben könnten, abgelehnt (…).
Zumindest in (zustimmenden) Sondervoten wurde aber von EGMR-Richtern schon Kritik an dieser ablehnenden Haltung gegenüber „chilling effects“ geäußert.
Es ist für mich nicht weiter überraschend, dass beim EGMR eine Tendenz festzustellen ist, auch positive Effekte von chilling effects herauszustellen. Definiert man den Begriff „chilling effect“ primär nach seinem Wortsinn – das heißt, als staatliche Einwirkung auf zwischenmenschliche Kommunikation, die diese verhindert, verlangsamt, weniger effektiv macht oder sonst wie einschränkt – dann müssen zwangsläufig viele staatliche Maßnahmen als chilling effect eingeordnet werden, die unstrittig erwünscht und sinnvoll sind. Zum Beispiel würde wohl kaum jemand die Sinnhaftigkeit eines Gegendarstellungsanspruchs in Frage stellen, obwohl die Existenz dieses Anspruchs (und damit die Gefahr, in einem Medienangebot auch Gegendarstellungen aufnehmen zu müssen) sicherlich Journalisten und Verleger einschüchtert.
Das Ziel kann vor diesem Hintergrund nur sein, die Unterschiede zwischen „positivem“ und „negativem“ chilling herauszuarbeiten. Hier lassen sich zwei Differenzierungsmöglichkeiten denken. Die eine betrifft die Qualität, die andere die Quantität des chilling.
Zum einen wäre denkbar, chilling effects immer dann als unerwünscht einzuordnen, wenn sie ein gewisses Maß erreichen: Was zu sehr einschüchtert, abschreckt oder abkühlt, ist illegal. Zum anderen wäre aber auch denkbar, die chilling effects nach ihrer Wirkung einzuordnen: Was dem Diskurs dient, ist erlaubt; was ihn behindert, ist illegal. Um hier differenzieren zu können, muss man zuvor allerdings herausarbeiten, was eigentlich optimale Diskursbedingungen sind.
Habermas hat hierzu eine optimale Sprechsituation erarbeitet, die wie folgt charakterisiert wird:
Die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen erfolgt im Konsens, der aber kein zufälliger, sondern ein begründeter sein muss, so dass „jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde“. Um einen solchen begründeten Konsens erzielen zu können, muss eine ideale Sprechsituation vorliegen, die durch vier Bedingungen der Chancengleichheit charakterisiert ist: Chancengleichheit aller bezüglich …
– der Verwendung kommunikativer Sprechakte, sodass sie jederzeit Diskurse eröffnen und mit Rede und Gegenrede bzw. Frage und Antwort einsetzen können;
– der Thematisierung und Kritik sämtlicher Vormeinungen, d. h., dass sie alle sprachlichen Mittel einsetzen können, um Geltungsansprüche zu erheben bzw. einzulösen;
– der Verwendung repräsentativer Sprechakte, die ihre Einstellung, Gefühle und Intentionen ausdrücken, sodass die Wahrhaftigkeit der Sprecher garantiert wird (Wahrhaftigkeitspostulat);
– der Verwendung regulativer Sprechakte, d. h. zu befehlen, sich zu widersetzen, zu erlauben, zu verbieten usw.
Diese Theorie von Habermas ist natürlich sehr theoretisch und allgemein gehalten und kann deswegen nicht unmittelbar zur Medienregulierung herangezogen werden. Aber sie erlaubt doch einen interessanten Einblick in die Hintergründe unserer Medienordnung: So dient z.B. der Gegendarstellungsanspruch nichts anderem als der Herstellung von Chancengleichheit bezüglich der kommunikativen Sprechakte – wer in einem Medium angegriffen wird, der zu gleichen Bedingungen antworten können. Andere Regeln, z.B. der Unterlassungsanspruch gegen verleumderische Behauptungen, dienen der Wahrhaftigkeit.