Der Generalanwalt beim EuGH Yves Bot hat seine Schlussanträge im Verfahren gegen die Vorratsdatenspeicherung gestellt: Seiner Meinung nach ist die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung rechtmäßig. Diese Anträge können als Vorabentscheidung gelten, denn der EuGH folgt üblicherweise den Schlussanträgen des Generalanwalts.
Gegenstand des Verfahrens war die Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung von Daten. Die Kläger, Irland und die Slowakei, wollten die Richtlinie für nichtig erklären lassen – Bot hält dies für unbegründet. Dabei erwähnt er jedoch die Frage, ob die Richtlinie mit den Grundrechten vereinbar ist, mit keinem Wort.
Aus europarechtlicher Sicht betreffen die Schlussanträge eine hochinteressante Rechtsfrage. Es geht um die Reichweite der Binnenmarktkompetenz der EG aus Art. 95 EGV. Wie viel Recht darf die Europäische Gemeinschaft ihren Mitgliedstaaten vorschreiben, um es zu „harmonisieren“? Darf die Europäische Gemeinschaft sich auch in solchen Bereichen einmischen, in denen die „Harmonisierung“, also die Rechtsvereinheitlichung zum Abbau von Handelshemnissen, bestenfalls Nebenzweck ist?
Kritiker der EG bringen vor, dass die europäischen Organe dabei viel zu weit gehen. Es ist insbesondere dieser Punkt, an dem es derzeit in der EU an allen Ecken kracht und quietscht: Der Vertrag in Lissabon ist vor allem aus diesem Grund in Irland (und eventuell auch in Tschechien) gescheitert. In Österreich ist an dieser Frage die Regierungskoalition zerbrochen, und in Deutschland hat der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler eine vielbeachtete Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag von Lissabon erhoben.
Ungeachtet dieser Kritik legt Yves Bot die Binnenmarktkompetenz in der Linie des EuGH recht weit aus. Dass die Harmonisierung des „Vorratsdatenspeicherungsrechts“ nur Nebenzweck der Richtlinie ist, dass vielmehr Aspekte der Terrorismusbekämpfung, der Gefahrenabwehr und (nach Ansicht der Kommission) auch des Datenschutzes (!) im Vordergrund stehen, hält er nicht für hinderlich.
[Der] Gerichtshof [hatte] bereits die Gelegenheit, zu entscheiden, dass sich der Gemeinschaftsgesetzgeber, wenn die Voraussetzungen für die Heranziehung von Art. 95 EG als Rechtsgrundlage erfüllt sind, auf diese Grundlage stützen kann, auch wenn einem öffentlichen Interesse bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebliche Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Art. 95 Abs. 3 EG ausdrücklich verlangt, dass bei Harmonisierungen gewisse Erfordernisse des Allgemeininteresses berücksichtigt werden und dass für diese ein hohes Schutzniveau gewährleistet wird. Ich bin der Ansicht, dass die Sicherheit zu diesen Erfordernissen gehört. Meiner Meinung nach trägt ein Rechtsakt wie die Richtlinie 2006/24, die die Voraussetzungen für die Vorratsspeicherung bestimmter Daten zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten harmonisiert, zur Erfüllung der Forderung bei, ein hohes Sicherheitsniveau innerhalb des Binnenmarkts zu gewährleisten. Ich bin der Meinung, dass Art. 95 Abs. 3 EG daher Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlaubt, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben und gleichzeitig ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel wie die Gewährleistung eines hohen Sicherheitsniveaus innerhalb der Gemeinschaft verfolgen.
(Rn. 97, Hervorhebung nicht im Original)
Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist dagegen nur interessant, was Generalanwalt Bot nicht gesagt hat. Die Frage, ob die Richtlinie möglicherweise gegen die europäischen Grundrechte verstößt (EMRK und Art. 6 EU-Vertrag) lässt er völlig aus – und das, obwohl die Slovakei als Streithelferin der Klägerseite durchaus so argumentiert hatte. Auch der „amicus curiae brief“, des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die relativ deutliche Einstweilige Anordnung des BVerfG oder die Tatsache, dass vergangenes Wochenende mehrere Zehntausend Menschen in Berlin gegen die Vorratsdatenspeicherung demonstriert haben, hätten Anlass sein können, zu dieser Frage wenigstens Stellung zu nehmen. Selbst die eigene Kollegin, die Generalanwältin Juliane Kokott, hatte sich in einem ganz anderen Verfahren zu dieser Frage geäußert – allein, Generalanwalt Bot sah diese Notwendigkeit nicht.
Die Entscheidung des EuGH wird nun nicht mehr lange auf sich warten lassen, wahrscheinlich kommt sie Anfang 2009. Wenn der Gerichtshof sich den Anträgen des Generalanwalts anschließt – und das tut er in der überwiegenden Mehrheit der Fälle – dann ist auch der deutsche Gesetzgeber gebunden. Eine EG-Richtlinie, die nicht selbst rechtswidrig ist, steht in der Normenpyramide über dem deutschen Recht – auch über den deutschen Grundrechten. Das Bundesverfassungsgericht wird seine alte Rechtsprechung zur informationellen Selbstbestimmung dann nicht fortsetzen können. Es wird dann entweder die Vorratsdatenspeicherung zulassen müssen, oder es legt die Frage, diesmal im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV, erneut dem EuGH vor. Hier könnte eventuell sogar vorteilhaft sein, dass die Grundrechte in dem aktuellen Verfahren offenbar keine Rolle spielen. Der EuGH hätte sich in dieser Hinsicht dann nämlich noch nicht festgelegt und könnte noch frei entscheiden.
Die Schlussanträge im Volltext.
Telemedicus zum Zusammenspiel von Europarecht und deutschem Recht bei der Vorratsdatenspeicherung.