Ein Gastbeitrag von Benjamin Lück
Vergangenen Donnerstag hat ein Bezirksgericht in New York entschieden, dass Google zu Recht millionenfach Bücher eingescannt und damit sein Angebot Google Books bestückt hat. Der seit 2005 andauernde Rechtsstreit Authors Guild, et alt. vs. Google, Inc. findet so einen vorläufigen Schlusspunkt.
Im Jahr 2005 hatte der Verband US-amerikanischer Autoren und Verleger „Authors Guild“ zusammen mit einzelnen Autoren Klage gegen Google eingereicht. Google verletze ihr Copyright, indem das Unternehmen massenhaft geschützte Bücher aus den Beständen von Partnerbibliotheken digitalisiere, so hergestellte digitale Kopien an diese übermittle sowie Teile der Bücher in seinem Angebot Google Books wiedergebe. 2009 und 2011 legten die Parteien dem Gericht Vergleichsvorschläge vor (ausführlich zur Vorgeschichte bei Telemedicus). Nachdem das Gericht den Vorschlag von 2011 abgelehnt hatte, konnten sich die Parteien auf keine neue Fassung einigen; sie beantragten ein sog. summary judgement. Richter Denny Chin hatte so nur in der Sache zu entscheiden.
Er prüfte allein, ob sich Google auf fair use berufen konnte. Wenn ein Fall von fair use vorliegt, ist eine Verletzung des Urheberrechts ausgeschlossen („[F]air use […] is not an infringement of copyright“). Ein Fall von fair use liegt allgemein vor, wenn das Interesse der Nutzer das Interesse des Rechteinhabers überwiegt. Die fair use-Doktrin ist eine weite Begrenzung des Urheberrechts, die im deutschen Recht keine Entsprechung hat. Sie ist in Sec. 107 des US-amerikanischen Copyright Acts von 1976 geregelt.
Sec. 107 formuliert einzelne Zwecke, zu denen die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke zulässig sein kann. Was letztlich fair ist, hat aber der Richter im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. In einem zweiten Satz zählt die Norm einzelne, nicht abschließende Faktoren auf, die dem Rechtsanwender bei der Entscheidung helfen sollen. Im Volltext:
„[T]he fair use of a copyrighted work […], for purposes such as criticism, comment, news reporting, teaching (including multiple copies for classroom use), scholarship, or research, is not an infringement of copyright. In determining whether the use made of a work in any particular case is a fair use the factors to be considered shall include—
(1) the purpose and character of the use, including whether such use is of a commercial nature or is for nonprofit educational purposes;
(2) the nature of the copyrighted work;
(3) the amount and substantiality of the portion used in relation to the copyrighted work as a whole; and
(4) the effect of the use upon the potential market for or value of the copyrighted work.
[…]“
Richter Chin entschied, dass Googles Handlungen von der fair use-Doktrin gedeckt seien. Dies betreffe:
Doch aus welchen Gründen konnte sich Google auf fair use berufen? Wurde damit einem Welt-konzern mit Milliardenumsatz ein Blankoscheck zur kostenlosen Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken erteilt? Vorab: Die wirtschaftliche Stellung von Google schließt fair use nicht aus; wohl aber ist dies im Rahmen der Abwägung zu beachten. Die Darstellung der Urteilsgründe folgt dem Aufbau von Richter Chin, der seine Begründung nach den vier Faktoren untergliederte, die im Rahmen der Abwägung immer zu beachten sind: (1.) Den Zweck der Nutzung, (2.) die Eigenart des geschützten Werkes, (3.) Umfang und Bedeutung des genutzten Teils sowie (4.) Auswirkungen auf Vermarktung und Wert des Werkes.
Erstens kommt es auf den Zweck der Nutzung an. Entscheidend ist dabei, ob die Nutzung transformativ ist, also ob sie dem ursprünglichen Werk etwas „Neues“ hinzufügt. Dies sei bei Google Books der Fall. Das Angebot nutze Texte, um einen Index aus Wörtern zu schaffen, der es Wissenschaftlern und anderen Lesern ermögliche, Bücher erst zu identifizieren und dann zu finden. Snippets seien dem Zeigen von Thumbnails vergleichbar: Nutzer können sich mit ihrer Hilfe angesichts einer breiten, ansonsten wohl unüberschaubaren Auswahl an Büchern zurechtfinden. Transformativ sei die Nutzung auch insofern, als sie Texte aus den millionenfach digitalisierten Büchern in Daten umwandle. Damit erlaube das Angebot die Anwen-dung sog. Data oder Text Mining Tools. Richter Chin stellte dazu fest:
„Words in books are being used in a way they have not been used before.“
Lesen könne der Nutzer die Bücher bei Google Books dagegen nicht, zumindest nicht vollständig. Das Angebot ersetze sie also gerade nicht.
Dass es sich bei Google um ein Wirtschaftsunternehmen handelt, das allein mit Werbeeinnahmen einen Umsatz von 35,5 Mrd. USD generierte (Zahlen für 2011), schließe fair use nicht grundsätzlich aus. Da Google die Bücher weder selbst verkaufe, noch Werbung auf den entsprechenden Seiten zeige, profitiere das Unternehmen höchstens indirekt von Google Books. Richter Chin:
„[E]ven assuming Google’s principal motivation is profit, the fact is that Google Books serves several important educational purposes.“
Der erste Faktor spricht nach Ansicht des Richters also stark für fair use.
Zweitens kommt es auf die Eigenart des genutzten Werkes an. Dabei spielt es eine Rolle, ob es sich um fiktionale Texte oder um non-fiction handelt. Erstere unterliegen einem stärkeren urheberrechtlichen Schutz. Nur 7% der Werke aus Google Books seien allerdings fiktional, bei der überwiegenden Mehrheit handele es sich um non-fiction. Zudem seien alle Werke veröffentlicht, ein Fakt, der eher für die Zulässigkeit der Nutzung spreche, als wenn es sich um unveröffentlichte Werke handele. Der zweite Faktor spreche so für fair use.
Der Umfang der Nutzung sowie die Bedeutung des genutzten Teils im Verhältnis zum Gesamt-werk sind für den dritten Faktor zu berücksichtigen. Die Nutzung des gesamten Werkes spreche zwar gegen fair use, schließe dies aber auch nicht zwingend aus. Google digitalisiert gesamte Bücher, vervielfältigt also das Werk als Ganzes. Dies sei allerdings auch notwendig, um die Suchfunktion sinnvoll nutzen zu können. Nur Teile der Kopien seien zudem öffentlich einsehbar. Und, kürzeste Texte seien nicht einsehbar. Alle Verfasser von Haiku können aufatmen. Dennoch spreche der dritte Faktor leicht gegen fair use.
Schließlich ist der Effekt zu beachten, den die Nutzung auf potentielle Märkte und den Wert des Werkes hat. Die Kläger hatten angeführt, Google Books diene letztlich dazu, den bestehenden Buchmarkt zu ersetzen. Nutzer könnten zudem die Vorkehrungen, die Google getroffen hat, um zu verhindern, dass das gesamte Buch online einsehbar ist, leicht umgehen. Richter Chin:
„Neither suggestion makes sense.“
Google verkaufe die eingescannten Texte nicht, diese ersetzten auch nicht einzelne Bücher. Die Partnerbibliotheken besäßen das Buch gerade selbst. Und niemand würde die Mühe auf sich nehmen, einzelne snippets zu einem ganzen Buch zusammenzufügen, zumal jede zehnte Seite geschwärzt sei und er letztlich das Original bräuchte, um die snippets in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Google Books fördere sogar den Absatz der Bücher, ermögliche es doch, diese überhaupt zu finden und verlinke die eigene Seiten mit entsprechenden Händlern:
„In this day and age of online shopping, there can be no doubt but that Google Books improves books sales.“
Der vierte Faktor spreche also stark für fair use.
Im Ergebnis sprachen für Richter Chin drei der vier Faktoren für die Annahme von fair use (die wichtigsten beiden Faktoren 1 und 4 sogar stark). In seiner abschließenden Abwägung kam Richter Chin zu dem nach seiner Argumentation folgerichtigen Schluss, dass sämtliche Handlungen von Google als fair use anzusehen sind:
„In my view, Google Books provides significant public benefits. It advances the progress of the arts and sciences, while maintaining respectful consideration for the rights of authors and other creative individuals, and without adversely impacting the rights of copyright holders.“
Google werde so also dem Verfassungsauftrag gerecht, wie ihn die sog. Copyright Clause (Art. I, Sec. 8, Cl. 8 US Constitution) formuliere. Es ermögliche neue Forschungsmethoden, hauche alten, teils vergriffenen Büchern neues Leben ein und gebe bislang unterversorgten Bevölkerungsgruppen, insbesondere Blinden, Zugriff darauf. Dass Google Kopien der Bücher an die Partnerbibliotheken weiterreiche, sei ebenfalls fair use. Diese können die Digitalisate wiederum unter den Voraussetzungen des Copyrights nutzen, insbesondere unterlägen viele ihrer Handlungen ebenfalls fair use. Insofern sei Google auch nicht für deren Urheberrechtsverletzungen (secondary liability) haftbar. Nach Aussagen ihres Geschäftsführers plant die Authors Guild nun, Berufung gegen das Urteil einzulegen.
Die Entscheidung kann als Beispiel herhalten, wie eine Generalklausel als Beschränkung des Urheberrechts auch neue und neueste Nutzungsarten abdeckt. Den angemessenen Interessenausgleich herbeizuführen, ist dabei allein Aufgabe des Gerichts, bei Bezirksgerichten also einer einzelnen Person. Bis zu einer ersten Entscheidung vergingen – freilich aus verschiedensten Gründen – acht Jahre. Wesentlich länger bräuchte auch ein Gesetzgeber nicht, um eine neue Schranke in das Gesetz einzufügen und selbst eine Entscheidung über den Interessenausgleich zu treffen. Diese acht Jahre reichten Google jedenfalls, um sein Angebot so auszugestalten, dass ein Verbot den originären Zielen des Copyrights kaum mehr entsprochen hätte:
„Indeed, Google Books has become such an important tool for researchers and librarians that it has been integrated into the educational system.“
Interessant wäre es gewesen zu erfahren, wie die Entscheidung zu einem früheren Zeitpunkt ausgefallen wäre, bevor Google Books diesen Status erreicht hatte. Bemerkenswert bleibt jedoch, dass eine aus der digitalen Steinzeit stammende Norm von recht bescheidener Länge Google Books ohne jegliche Anstrengungen in ein rechtliches Korsett fassen kann; wenn auch in kein besonders enges.
Die Entscheidung im Volltext (Englisch).
Benjamin Lück hat Rechtswissenschaften in Freiburg, Istanbul und Berlin studiert. Seit Juni 2013 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Frau Prof. Dr. de la Durantaye, LL.M. (Yale), Juniorprofessur für Bürgerliches Recht, insbesondere Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der HU Berlin.