Der ein oder andere Leser wird sich über den Titel dieses Artikels wundern. „Netzsperren im Urheberrecht“ – gibt es das überhaupt? Wer die urheberrechtlichen Gesetze kennt, der weiß, dass dort keine Regelungen zu Netzsperren verankert sind. Und doch: Es gibt sie.
Eine „Netzsperre“, das ist eine Sperrung des Netzes. Ich stelle das deshalb klar, weil der Begriff in letzter Zeit inflationär gebraucht wird, um auch Zustände zu beschreiben, die mit einer Sperrung des Netzes nichts zu tun haben – sondern nur mit der Sperrung des Zugangs zum Netz. Das ist vor allem bei den sogenannten „Three Strikes“-Modellen der Fall, bei denen notorischen Filesharern irgendwann der Zugang zum Internet gesperrt werden soll. Netzsperren sind aber etwas anderes. Hier wird nicht der Nutzer in Anspruch genommen – das heißt, derjenige, der am Endpunkt des Netzes sitzt – sondern der Netzbetreiber.
Netzsperren allgemein: § 59 RStV
Netzsperren sind im deutschen Recht bisher primär in § 59 Abs. 4 Satz 1 RStV geregelt. Dort steht:
Erweisen sich Maßnahmen gegenüber dem Verantwortlichen nach § 7 des Telemediengesetzes als nicht durchführbar oder nicht Erfolg versprechend, können Maßnahmen zur Sperrung von Angeboten nach Absatz 3 auch gegen den Diensteanbieter von fremden Inhalten nach den §§ 8 bis 10 des Telemediengesetzes gerichtet werden, sofern eine Sperrung technisch möglich und zumutbar ist.
Auf diese Regelung verweist § 20 Abs. 4 JMStV, so dass Netzsperren auch zum Regime des Jugendmedienschutzrechtes zählen. Auch noch andere Vorschriften im Medienrecht können (unter einigen Schwierigkeiten) als Ermächtigungsgrundlagen verstanden werden; z.B. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV und § 52a Abs. 2 Satz 3 RStV. Zuletzt bleibt die allgemeine polizeirechtliche Generalklausel, die es erlaubt, „Gefahren für Recht und Ordnung“ abzuwehren. Ob die Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage für Netzsperr-Verfügungen wirklich taugt, ist umstritten. Denn Netzsperren greifen, wie ich unten noch genauer erklären werde, stark in Grundrechte und andere verfassungsrechtliche Rechtspositionen ein. Deshalb vertritt die wohl überwiegende Meinung die These von der „Polizeifestigkeit des Medienrechts“: Nur medienrechtliche Normen seien überhaupt geeignet, in die Kommunikationsfreiheiten einzugreifen. Alle anderen Normen seien ausgeschlossen.
Eine § 59 RStV vergleichbare Norm gibt es im Urheberrecht nicht. Wieso heißt dieser Artikel dann aber „Netzsperren im Urheberrecht“? Die Antwort: Es gibt zwar diese Netzsperren-Regeln nicht – aber es müsste sie geben.
Netzsperren in den Urheberrechts-Richtlinien
Das Urheberrecht ist mittlerweile stark überregelt durch europäische Richtlinien. Die beiden wichtigsten Richtlinien sind die Richtlinie über das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft (RL 2001/29/EG – sog. InfoSoc-Richtlinie) und die sog. Durchsetzungs-Richtlinie (RL 2004/48/EG). Und diese beiden Richtlinien enthalten Regeln zu Netzsperren.
Art. 8 Abs. 3der InfoSoc-Richtlinie besagt:
Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Rechtsinhaber gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden.
Und Art. 11 Satz 3 der Durchsetzungsrichtlinie sagt:
Unbeschadet des Artikels 8 Absatz 3 der Richtlinie 2001/29/EG stellen die Mitgliedstaaten ferner sicher, dass die Rechtsinhaber eine Anordnung gegen Mittelspersonen beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zwecks Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums in Anspruch genommen werden.
Die anderen Teile dieser Richtlinien hat der deutsche Gesetzgeber umgesetzt. Wieso also fehlen ausgerechnet die Bestimmungen zu Netzsperren? In der Begründung zu dem Umsetzungsgesetz zur Durchsetzungsrichtlinie (PDF) findet sich dieser Absatz:
Wie schon zu Artikel 8 ausgeführt, ist über die Grundsätze der Störerhaftung eine Inanspruchnahme Dritter im Rahmen des Unterlassungsanspruchs grundsätzlich möglich. Die Richtlinie trifft keine Aussagen darüber, unter welchen Voraussetzungen die Inanspruchnahme Dritter zu erfolgen hat. Erwägungsgrund 23 stellt hierzu ausdrücklich fest, dass die Voraussetzungen und Verfahren für derartige Anordnungen Gegenstand der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bleiben. Dementsprechend ist den Vorgaben der Richtlinie durch die Grundsätze des deutschen Rechts über die Störerhaftung Genüge getan. Der Entwurf verzichtet auch in diesem Bereich auf eine gesetzliche Regelung der Störerhaftung, weil die Frage der Verantwortlichkeit des Störers nur sehr schwer zu abstrahieren ist. Es kommt bei der Bewertung letztlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Daher bestünde bei einer gesetzgeberischen Kodifizierung die Gefahr, dass der Entscheidungsspielraum für die Gerichte zu eng wird.
Der Gesetzgeber meint also, die Störerhaftung würde ausreichen, um die Anforderungen der Richtlinie zu erfüllen. Das ist grundsätzlich schön gedacht: Nach der Rechtsfigur der sog. Mitstörerhaftung, die der BGH aus sachenrechtlichen Normen hergeleitet hat (§ 1004 i.V.m. § 823 BGB analog), kann jemand, der in einem absolut geschützten Recht verletzt ist, jeden auf Unterlassung in Anspruch nehmen, der willentlich adäquat kausal zu einer Rechtsverletzung beigetragen hat. Ein absolut geschütztes Recht ist (im Unterschied zu den nur relativ wirksamen Rechten) ein Recht, das gegenüber jedermann besteht – zum Beispiel das Urheberrecht. Aber: Kann aus einer Verletzung des Urheberrechts auch ein Netzbetreiber in Anspruch genommen werden?
Grenzen der Störerhaftung bei Access-Providern
In ständiger Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof für sog. Provider, also Personen, die im Internet Leistungen an Dritte zur Verfügung stellen, aus den §§ 7 ff. TMG (die selbst eine Umsetzung der Art. 12 ff. der E-Commerce-Richtlinie, RL 2000/31/EG, darstellen) ein Haftungsprivileg abgeleitet. Demnach haftet ein Provider auf Unterlassung, d.h. auch im Rahmen der Störerhaftung, nur dann, wenn er zumutbare Prüfungspflichten verletzt hat (z.B. BGH Az. I ZR 18/04 – Jugendgefährdende Medien bei Ebay). Eine Pflicht, den durchlaufenden Datenstrom zu überwachen und illegale Angebote auszufiltern, haben die Gerichte bei Netzbetreibern bisher immer abgelehnt (Übersicht in Fußnote 1848 des Skripts Internetrecht von Prof. Hoeren, S. 453 [PDF]). Anders mag das mit speziellen Access-Providern sein, z.B. den Betreibern von WLANs. Aber im Grundsatz gilt: Eine Pflicht von Netzbetreibern, Netzsperren einzurichten, sehen deutsche Gerichte bisher nicht.
Insbesondere eine Entscheidung des LG Hamburg aus 2008 verneint die Pflicht eines Providers, solches Netzsperren einzurichten: Dies sei schlicht unverhältnismäßig und mit der Rechtsprechung des BGH zu zumutbaren Prüfungspflichten nicht in Einklang zu bringen. Interessanterweise weist das Gericht noch einmal explizit darauf hin, dass es die einschlägige EU-Rechtslage kennt. Ohne Umsetzung der EU-Bestimmungen in deutsches Recht sieht es keine Handhabe:
Die Kammer verkennt nicht, dass ihre Wertungen dazu führen, dass eine zivilrechtliche Inanspruchnahme eines Access-Providers auf Sperrung eine Internetseite derzeit mit der Störerhaftung praktisch kaum durchsetzbar sein dürfte, und dass es danach vielmehr entgegen der Stellungnahme der Bundesregierung vom 06.11.2002 im Rahmen der Umsetzung der InfoSoc-Richtlinie (BT-Drucksache 15/38, Anlage 3 „Zu Buchstabe d) einer der Intention von Art. 8 Abs. 3 der InfoSoc-Richtlinie entsprechenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft hätte, wie etwa mittlerweile im Rahmen des § 101 UrhG im Hinblick auf Auskunftsansprüche gegen Provider geschehen ist.
Nun kann man sich fragen, ob diese Rechtsprechung so richtig ist. Denn, wenn für die Inhaber von Rechten nach dem UrhG keine Möglichkeit besteht, Netzsperren einzurichten, dann könnte sich die Bundesrepublik Deutschland vertragsbrüchig verhalten: Sie verletzt die EU-Verträge und riskiert ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Aus diesem Grund gilt für die Gerichte die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts: Auch wenn man nach herkömmlichen Auslegungsregeln zu anderen Ergebnissen kommen müsste, so sollte man das Recht immer in Richtung des EU-Rechts „biegen“. Erst, wenn man das deutsche Recht nicht nur biegen, sondern auch brechen müsste, um zu einem EU-rechtskonformen Ergebnis zu kommen, ist eine Grenze erreicht (EuGH NJW 2006, 2465). Das LG Hamburg stellt sich auf den Standpunkt, die Grenze zum „Brechen” des deutschen Rechts sei hier bereits erreicht. Dem lässt sich entgegenhalten, dass insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe wie die „Zumutbarkeit” der Prüfungspflichten durchaus eine andere Auslegung zugelassen hätten.
Sollen also die deutschen Gerichte ihre Rechtsprechung zur Störerhaftung ändern und beim nächsten Verfahren, in denen ein Urheber einen Netzbetreiber verklagt, eine Netzsperre anordnen? Das wäre aus Sicht des Internets ein GAU: Ohne viel Federlesen würde ein Grundprinzip des Internets – die uneingeschränkte Ende-zu-Ende-Konnektivität – verabschiedet. Und das ist auch noch in einem (im wahrsten Sinn des Wortes) „kurzen Prozess” möglich, nämlich im einstweiligen Rechtsschutz.
Netzsperren und europäisches Primärrecht
So einfach, wie oben dargestellt, ist aber auch die Rechtslage im Europarecht nicht. Denn auch Richtlinien der EU müssen sich an höherrangigem Recht messen lassen: In diesem Fall an der EU-Grundrechtecharta. Die einschlägigen Grundrechte (insbesondere Art. 11, die Äußerungsfreiheit, und Art. 8, Schutz der personenbezogenen Daten) dürften den allermeisten Varianten von Netzsperren entgegenstehen. Hinzu kommt noch Art. 10 EMRK, an den die EU über Art. 6 Abs.3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GrCh gebunden ist.
Denn Netzsperren betreffen nicht nur das Verbot einer konkreten, illegalen Verhaltensweise. Die rechtlichen Bedenken gegen Netzsperren lassen sich wie folgt zusammenfassen:
• Netzsperren stellen einen Eingriff in die Integrität einer Kommunikationsinfrastruktur dar, die gesellschaftlich enorm wichtige Bedeutung hat. Eine Netzsperre ist ein „chilling effect”, der weit über die eigentliche Sperrung hinaus wirkt. Denn die Bürger kennen das Internet als freiheitliches Medium, das von wenig staatlichen Eingriffen geprägt wird. Eine so drakonische Maßnahme hätte unweigerlich Einschüchterungseffekte zur Folge.
• Netzsperren verpflichten die Netzbetreiber, ihre neutrale Position aufzugeben und selbst zu kontrollieren, welche Informationen sie transportieren – dadurch werden Privatpersonen in die Position von Hoheitsträgern gedrängt, für die sie weder legitimiert noch qualifiziert sind.
• Die Netzbetreiber werden hier für Handlungen Dritter zur Haftung gezogen – eigentlich soll dies nur streng subsidiär geschehen.
• Eine Netzsperre betrifft ganz regelmäßig auf eine Vielzahl von Personen, die mit dem illegalen Vorgang nichts zu tun haben: Nicht jeder, der Filesharing betreibt, begeht Urheberrechtsverletzungen. Und nicht jeder Besucher von Kino.to lud illegal Dateien herunter.
• Personen, die von Netzsperren nichts merken, wird ein Teil ihrer Freiheit genommen – ohne, dass sie dagegen klagen könnten. Das beeinträchtigt die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG.
• Viele Typen von Netzsperren erfordern auch eine Filterung oder „Durchsuchung” der durchgeleiteten Datenpakete mittels Deep Packet Inspection. Das beeinträchtigt das Kommunikationsgeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Die Rechtssache Scarlet Extended
Es sind genau diese Fragen, die gerade den EuGH beschäftigen. Mit der Sache Scarlet Extended (Rs. C-70/10) liegt dem EuGH genau die Frage vor, ob die oben genannten Richtlinien wirklich dazu taugen, als Rechtsgrundlage für Netzsperren herangezogen zu werden – oder nicht. Der Generalanwalt beim EuGH, Cruz Villalón, hält sie in ihrer aktuellen Form für rechtswidrig. Dabei folgte er (laut der Pressemitteilung [PDF], das eigentliche Votum liegt leider weder auf deutsch noch auf englisch vor) in etwa den Argumenten, die oben aufgezählt sind. Insbesondere betonte der Generalanwalt, dass nach einschlägiger Rechtsprechung des EGMR (an die gem. Art. 6 Abs. 3 EUV auch der EuGH sich halten soll) Beschränkungen der Kommunikationsfreiheit eine hinreichend bestimmte Eingriffsermächtigung voraussetzen:
Unter Heranziehung der Rechtsprechung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in diesem Bereich entwickelt hat, führt Generalanwalt Cruz Villalón aus, dass eine Beschränkung der Ausübung der in der Grundrechtecharta garantierten Rechte und Freiheiten auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen muss, die den Anforderungen an die „Qualität des Gesetzes“ entspricht. Daher kann eine Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Internetnutzer, wie sie im vorliegenden Fall streitig ist, seiner Ansicht nach nur zulässig sein, wenn sie auf einer nationalen gesetzlichen Grundlage beruht, die zugänglich, klar und vorhersehbar ist.
Und eben dies sei aktuell nicht gewährleistet. Denn ein knapper Satz zu „Mittelspersonen” reicht eben nicht aus, um exakt die Bedeutung und Reichweite einer Regelung zu Netzsperren zu klären.
Das Votum des Generalanwalts ist für den EuGH nicht bindend. In der Vergangenheit war der EuGH immer sehr zurückhaltend, wenn es um die Prüfung von EU-Recht am Maßstab der Grundrechte ging. Andererseits ist auch für den EuGH kaum von der Hand zu weisen, dass Netzsperren rechtlich gesehen kein Pappenstiel sind – es geht an´s Eingemachte. Das Urteil des EuGH wird also sicherlich als Grundsatzurteil verstanden werden. Je nachdem, wie der EuGH entscheiden wird, hat das dann auch Folgen für das deutsche Recht.
E-Comm zu den Schlussanträgen des Generalanwalts.
Telemedicus zur technischen Umsetzung von Netzsperren.
Die Pressemitteilung des EuGH zu den Schlussanträgen (PDF).
Stephan Ott zu Netzsperren nach dem RStV oder dem JMStV.
Update, 6.9.2011:
Es gibt mittlerweile eine aktuelle Entscheidung des LG Köln, die die Rechtsprechung des LG Hamburg bestätigt. Mehr dazu bei Telemedicus.