Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Holznagel LL.M., Münster.
1. Begriff und Gefährdungslagen
Netzneutralität ist eine Bezeichnung für die neutrale Datenübermittlung im Internet. Herkömmlicherweise transportiert das Internet Daten „unwissend“ in Paketen. Nach dem Best-Effort-Prinzip werden alle Datenpakete gleich behandelt. Das Internet ist damit nach dem traditionellen Verständnis dienste- und applikationsneutral. Aufgrund der explosiven Zunahme datenintensiver Dienste wie z.B. YouTube befürchten die TK-Anbieter eine Verstopfung ihrer Netze. Neue Netzwerkmanagementtechniken ermöglichen es ihnen nun, den Datentransport je nach Verkehrslage und ökonomischem Bedürfnis zu kontrollieren. Zudem sind die Margen im Breitband-Geschäft zu gering. Google und Co. würden zwar den mit Abstand meisten Datenverkehr verursachen, kämen aber zu einem unangemessenen Prozentsatz für die verursachten Kosten auf. Die TK-Anbieter fordern daher hinreichende Gestaltungsspielräume für die Einführung von Quality-of-Service-Diensten und entsprechenden Preismodellen.
Damit entstehen Gefährdungslagen, vor denen die Internet-Community immer gewarnt hat: Der Datenverkehr wird erstens blockiert, wie es bei der Sperrung von Skype auf Smartphones zu beobachten ist. Der Datenverkehr wird zweitens verlangsamt. Filesharing-Programme werden z.B. gedrosselt, um auf ein Herunterladen von Videos, Filmen und Musik zu reagieren. Es werden drittens unerwünschte Inhalte manipuliert oder blockiert. So werden immer wieder Webseiten gesperrt, um die Verbreitung von Kritik am Geschäftsgebaren bestimmter Firmen zu behindern.
Um diese Gefährdungen abzuwehren, soll aus Sicht der Befürworter von Netzneutralität das Recht eine Gleichbehandlung beim Datentransport sicherstellen. Ihnen geht es um verschiedene Schutzziele. Zunächst werden die Ziele der Sicherung von Wettbewerb und der Innovationsfähigkeit des Internets angeführt. Ohne Netzneutralität könnten kleine Unternehmen nicht im gleichen Maße wie große Unternehmen an den Segnungen des Internet teilhaben. Die jüngsten Berichte über das Sperren von Medieninhalten und ihre Manipulation durch Deep Packet Inspection haben dazu geführt, dass nun auch die Authentizität und Integrität der Inhalte als weiteres Ziel einer Netzneutralitätsregelung angeführt wird. Schließlich wird auf die Verfassungsgebote der kommunikativen Grundversorgung (Art. 5 Abs. 2 S. 2, 87f Abs. 1 GG) und der Vielfaltsicherung hingewiesen, die durch eine Verlangsamung oder Blockade des Datenverkehrs gefährdet sein können.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zu erkennen gegeben, dass sie sich für die Gewährleistung von Netzneutralität einsetzen will. Vor diesem Hintergrund ist der Anfang Oktober 2010 vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen (TKG-E) mit Spannung erwartet worden.
2. Netzneutralität als Regulierungsziel
Netzneutralität als politisches Ziel der Regulierung wird ausweislich der Entwurfsbegründung (PDF) in § 2 Abs. 2 Nr. 1 TKG-E festgeschrieben. Hiernach sind Endnutzer in die Lage zu versetzen, „Informationen abzurufen und zu verbreiten sowie beliebige Anwendungen und Dienste zu benutzen.“ Inhaltlich ist dieser Passus leider wenig aussagekräftig. Es ist auffällig, dass weder hier (noch an anderen Stellen des Entwurfs) der Begriff der Netzneutralität verwendet wird, noch dargelegt wird, welche Ziele mit welcher Gewichtung verfolgt werden. Der deutsche Gesetzgeber hat einfach die Vorgaben der einschlägigen europäischen Richtlinie übernommen. Diese und andere Vorschriften im TKG-E haben durch diese „Technik“ aber nicht an Klarheit gewonnen.
3. Transparenz als Kernbestandteil
Der Entwurf des TKG geht davon aus, dass sich die Netzneutralität wirkungsvoll durch Transparenz schützen lässt. Der Verbraucher soll schon vor Vertragsschluss darüber informiert werden, ob sich der Netzbetreiber an die Grundsätze der Netzneutralität hält oder nicht. Hierdurch wird er befähigt, den ihm genehmen Anbieter auszuwählen. Dementsprechend schreibt § 43a Abs. 1 Nr. 2 TKG-E vor, dass die TK-Netzbetreiber und die Anbieter öffentlich zugänglichen Telekommunikationsdiensten dem Verbraucher und auf Verlangen anderen Endnutzern im Vertrag in klarer, umfassender und leicht zugänglicher Form die Art und die wichtigsten Leistungsdaten der angebotenen Telekommunikationsdienste zur Verfügung stellen müssen. Zu diesen Merkmalen gehören nach § 43a Abs. 2 TKG-E auch Angaben über alle weiteren Einschränkungen im Hinblick auf den Zugang zu und die Nutzung von Diensten und Anwendungen (Nr. 2), das angebotene Mindestniveau der Dienstqualität und gegebenenfalls anderer festgelegter Parameter für die Dienstequalität (Nr. 3), Information über alle vom Unternehmen zur Messung und Kontrolle des Datenverkehrs eingerichtete Verfahren, um eine Kapazitätsauslastung oder Überlastung einer Netzverbindung zu vermeiden (Netzwerkmanagementtechniken), und Informationen über die möglichen Auswirkungen dieser Verfahren auf die Dienstequalität (Nr. 4) sowie alle vom Anbieter auferlegten Beschränkungen für die Nutzung der von ihm zur Verfügung gestellten Endeinrichtungen (Nr. 5). Weitere Einzelheiten darüber, welche Angaben hierzu erforderlich sind, kann die Bundesnetzagentur festlegen (§ 43a Abs. 3 TKG-E).
Des Weiteren können die Anbieter verpflichtet werden, die Verbraucher über nachträgliche Änderungen, die die Nutzung der Dienste und Anwendungen einschränken, zu informieren (§ 45n Abs. 4 Nr. 3 TKG-E). Zudem können sie angehalten werden, vergleichbare, angemessene und aktuelle Endnutzerinformationen über die Qualität ihrer Dienste zu veröffentlichen (§ 45o Abs. 2 TKG-E). Die Verbraucher können, wenn sie mit ihren Anbieter nicht mehr zufrieden sind, auf dieser Basis den Wechsel zu einem anderen Wettbewerber einleiten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wird der Anbieterwechsel erleichtert (vgl. §§ 43 Abs. 1 Nr. 8, 46 TKG-E). Der Entwurf geht hier deutlich über die europäischen Vorgaben hinaus.
4. Mindeststandard bei der Dienstequalität
§ 45o Abs. 3 TKG-E räumt der Bundesnetzagentur zudem die Möglichkeit ein, Mindestanforderungen an die Dienstequalität festzulegen. Dies soll dem Ziel dienen, eine Verschlechterung von Diensten und eine Behinderung oder eine Verlangsamung des Datenverkehrs in Netzen zu verhindern. Unklar ist derzeit, was hierunter zu verstehen ist. Eine Legaldefinition des Begriffs „Dienstequalität“ gibt es nicht. Vom bloßen Wortlaut her ist der Begriff weit und damit auslegbar. Es spricht daher zunächst nichts dagegen, eine Gleichbehandlung im Datenverkehr als einen Aspekt der Dienstequalität aufzufassen. Andererseits ist der technische Sprachgebrauch eng und bezieht sich vor allem auf Parameter des Datenverkehrs wie die Bandbreite, die Verzögerung (Delay), die Fluktuation (Jitter) und den Paketverlust (Packet Loss). Ähnliche Gesichtspunkte sind auch in Anhang III der Universaldienstrichtlinie vermerkt, auf die die Entwurfsbegründung als möglicher Bezugspunkt für Definitionsbemühungen verweist.
Für diese enge Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte. Im europäischen Gesetzgebungsverfahren bestand die Befürchtung, dass eine Ausdifferenzierung von Quality-of-Service-Diensten zu einer unzumutbaren Absenkung des Best-Effort-Standards für die Endverbraucher führen könne. Denn je mehr Quality-of-Service-Dienste es gebe, desto weniger Kapazität stehe für Best-Effort-Angebote zur Verfügung. Um eine zu weitgehende Absenkung zu vermeiden, sollten die Regulierungsbehörden einen Mindeststandard für die Dienstequalität festlegen können. Vor der Festlegung solcher Anforderungen ist jedoch eine Zusammenfassung der Gründe für ein Tätigwerden, der geplanten Änderungen und der vorgeschriebenen Vorgehensweise rechtzeitig der Kommission und dem Verbund der nationalen Regulierungsbehörden GEREK zu übermitteln (§ 45o Abs. 3 TKG-E). Den Kommentaren oder Empfehlungen ist weitestgehend Rechnung zu tragen, wenn die Anforderungen beschlossen werden.
Die Entwurfsbegründung geht davon aus, dass Transparenzregeln hinreichend wirkungsvoll sind, um eine drohende Absenkung des Best-Effort-Standards zu verhindern. Immerhin wird der Wettbewerb in den TK-Märkten anders als in den USA durch eine strikte Regulierung marktmächtiger Anbieter gewährleistet. Die Festlegungskompetenz könnte zukünftig aber z.B. dazu genutzt werden, das Verhältnis zwischen den bei Vertragsschluss zugesagten und später technisch realisierten Downloadraten bei Datenanschlüssen zu konkretisieren.
5. Bewertung
Kritiker bezweifeln demgegenüber, dass Transparenzregeln allein ausreichen werden, um das Problem der Netzneutralität in den Griff zu bekommen. Die Bereitschaft für einen Vertragswechsel sei im Telekommunikationssektor traditionell eher gering und der Aufwand hierfür regelmäßig zu hoch. Zudem gebe es kein Sonderkündigungsrecht, mit dem der Verbraucher unmittelbar auf eine Einschränkung des Datenverkehrs nach Vertragsschluss reagieren könne. Die im TKG-E vorgesehene Erleichterung des Anbieterwechsels sei zwar zu begrüßen. Ob hierdurch aber die Wechselbereitschaft erheblich gesteigert werden könne, sei eher zu bezweifeln.
In der Praxis dürfte die größte Schwierigkeit für einen Wechsel darin liegen, dass der Verbraucher Qualitätsminderungen wie z.B. eine Reduktion der Downloadraten nur außerordentlich schwer nachweisen kann. Die TK-Netzbetreiber können zwar verpflichtet werden, der Bundesnetzagentur Informationen über Netzwerkmanagementverfahren bereitzustellen (§ 45n Abs. 4 Nr. 4 TKG-E). Ob hierdurch aber die notwendige Aufklärung über die Wirkungsweise des neuen Verfahrens zur Steuerung des Datenverkehrs erlangt werden kann, bleibt abzuwarten.
Transparenzvorgaben führen zudem dann nicht weiter, wenn es im Markt gar keine Auswahl unter verschiedenen Angeboten geben sollte; wenn Wettbewerber also nicht bereit sein sollten, Dienste anzubieten, die den Grundsätzen der Netzneutralität entsprechen. Dann bedürfte es vermutlich weitergehender Regelungen, wie z.B. der Festlegung einer Mindestqualität für das Netz (statt für den Dienst) oder der Vorgabe für ein Diskriminierungsverbot, wie wir es aus der amerikanischen Debatte kennen. Offen ist in der deutschen Diskussion derzeit, ob hierbei ein formelles oder ein materielles Verständnis zugrunde gelegt werden sollte. Bei einem formellen Verständnis wären alle Datenpakete gleich zu behandeln. Dann wäre kein Raum für Quality-of-Service-Dienste. Die Best-Effort-Welt würde in die neue Zeit der Steuerung des Datenverkehrs übertragen. Ginge man von einem materiellen Verständnis des Diskriminierungsverbots aus, könnten Ausnahmen vom Gleichheitsgebot beim Transport aus bestimmten sachlichen Gründen wie z.B. notwendigen Netzwerkmanagementmaßnahmen zugelassen werden. Auch Quality-of-Service-Dienste könnten in einem bestimmten Umfang zugelassen werden, wenn ihr Transport applikationsneutral erfolgen würde und es damit ausgeschlossen wäre, dass einzelne Anwendungen diskriminiert werden.
Durch die Festlegung eines Mindeststandards an Dienstequalität können u.a. gewisse Bandbreiten für Best-Effort-Dienste gesichert werden. Diese Regelung ähnelt daher den herkömmlichen Must-Carry-Regelungen, die für bestimmte Medieninhalte gewisse Übertragungskapazitäten im Kabelfernsehnetz sichern. Parallelen gibt es auch zu den Universaldienstvorgaben, die z.B. für den Sprachdienst oder das Internet bestimmte Qualitätsanforderungen festschreiben. Diese Vorgaben sind zu begrüßen, können sie doch dazu beitragen, das Ziel der kommunikativen Grundversorgung gewährleisten. Ob dieses Instrument zur Umsetzung dieses Ziels jedoch ausreichend ist, darf bezweifelt werden. Denn die nationalen Regulierer dürfen es überhaupt nur in enger Abstimmung mit Brüssel einsetzen.
Im Hinblick auf das Schutzziel der Integrität und Authenzität der transportierten Dateninhalte besteht noch erheblicher Diskussionsbedarf. Hier ist zu ermitteln, wie groß die Gefährdungen durch Deep Package Inspection sind. Darauf abgestimmt wären noch hinreichende Vorkehrungen in das TKG aufzunehmen.
Noch nicht gelöst ist auch die Aufgabe, mit dem Rundfunkrecht ein kohärentes Regelungssystem zu erarbeiten. Der Grundsatz der Netzneutralität ist bereits in § 52a Abs. 3 RStV für Rundfunk und vergleichbare Teledienste verankert. Hiernach darf der Anbieter einer Plattform ohne Zustimmung des jeweiligen Rundfunkveranstalters dessen Programme und vergleichbare Telemedien inhaltlich und technisch nicht verändern. Die Vorschrift gilt auch nicht nur für marktbeherrschende Plattformbetreiber. Dies wird häufig übersehen. Durch diese Regelung werden Zwangspunkte geschaffen, die die TK-Regulierung nicht übergehen kann. Offen ist aber, ob die Landesmedienanstalten in der Lage sind, für eine wirksame Umsetzung dieser Vorgaben zu sorgen.
Dr. Bernd Holznagel LL.M. ist Professor für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Europarecht und Verwaltungswissenschaften an der WWU Münster. Er ist Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Multimediarecht und steht dort der öffentlich-rechtlichen Abteilung vor. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesnetzagentur.