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Lesetipp: „The Long Tail“ von Chris Anderson

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Die Web-Wirtschaft funktioniert mit Nischenprodukten. Für Musik-Konzerne zählen nicht nur die Hits, sondern auch der Back-Katalog, Filmhändler im Netz vermarkten nicht nur die Blockbuster, sondern verdienen ihr Geld auch mit Programmkinofilmen. Das selbe gilt für Bücher, Versandwaren, Medienangebote.

Die Internet-Ökonomie funktioniert nach anderen Regeln, das ist die Message von Chris Anderson. Der Technologie-Journalist und Wirtschaftsberater hat nachgewiesen, dass Online-Märkte eine Vielfalt herausbilden, die im Offline-Bereich so nicht vorkommt. Das hat explosive Folgen – nicht nur für die Entwicklung in fast sämtlichen Sphären des Internet, sondern auch für Juristen, die sich damit befassen.
Die Idee von Anderson baut auf Beobachtungen auf, die er bei verschiedenen Online-Händlern machte: Alle diese Unternehmen erwirtschaften einen signifikant großen Anteil ihres Umsatzes mit Produkten, die im herkömmlichen Handel nicht geführt werden. 15 % der Bücher, die Amazon verkauft, würde ein Kunde in einer herkömmlichen Buchhandlung nicht finden. Andere Internet-Unternehmen wie Itunes, Netflix oder Ebay haben ähnliche Geschäftsmodelle: All diese Konzerne erschließen einen Markt, der „offline“ nicht existieren kann, weil dort Lager- und Vertriebskosten vorkommen, die solche Produkte zu teuer machen. Weil im Internet diese Kosten fast völlig wegfallen, erschließt sich ein Markt für Nischenprodukte: Der „Long Tail“.

Dieser „Long Tail“ besteht aus Print-on-Demand-Büchern, aus Blogs, Podcasts, Youtube-Video-Mashups. Hier finden all die Mikromedien ihren Platz, deren Existenz erst durch das Internet wirklich möglich geworden ist, hier ist Raum für hochspezialisierte Versandhändler, Musikgruppen, die sich selbst vermarkten, selbsternannte Internet-Comedystars. Ein „Long Tail“-Markt ist ein demokratischer Markt und ein Markt, in dem das Angebot die Nachfrage stark übersteigt.

Viele der Fragen, die Anderson aufwirft, haben unmittelbar rechtliche Auswirkungen: Wenn im Online-Rundfunk der „Long Tail“ von alleine für Vielfalt und Grundversorgung sorgt, wieso braucht es dann noch das enge deutsche Rundfunkrecht? Wie geht man mit den vielen Mashup-Künstlern um, die sich im „Long Tail“ tummeln? Wo hört wirtschaftliche Verwertung auf, wie legt man den Begriff „gewerblich“ aus? Oder, urheberrechtlich:

Disney und Metallica tun vielleicht alles Menschenmögliche, um ihr Urheberrecht zu schützen und auszudehnen, doch es gibt zahlreiche (vielleicht sogar mehr) Künstler und Produzenten, die den Peer-to-Peer („P2P“)-Vertrieb als günstiges Marketing betrachten.
Musiker können so Zuschauer für ihre Konzerte gewinnen, unabhängige Filmemacher sehen darin eine Möglichkeit, ein Publikum zu finden und Akademiker sehen das kostenlose Herunterladen ihrer Arbeiten als eine Möglichkeit, ihren Einfluss zu erhöhen und ihren Bekanntheitsgrad zu steigern.
Diese Perspektive wirkt sich natürlich darauf aus, wie man das Urheberrecht beurteilt. An der Spitze der Kurve verteidigen Film-Studios, die Musikindustrie und Verlage erbittert ihre Rechte. In der Mitte, im Bereich der kleineren Plattenfirmen und Universitätsverlage, existiert eine Grauzone. Am Ende der Kurve, beim Long Tail, im nichtkommerziellen Bereich, entscheidet sich eine wachsende Zahl der Urheber ausdrücklich dafür, auf einen Teil ihres Urheberrechtsschutzes zu verzichten.

Einsichten dieser Art, längst nicht nur zur urheberrechtlichen Phänomenen, hält Andersons „Long Tail“ viele bereit. Trotzdem: Auch wenn das Buch viele Anworten gibt, für Juristen werfen die Beobachtungen von Anderson vor allem Fragen auf. Die Internet-Welt, die das Buch beschreibt, ist eine gänzlich andere als die, auf die sich die deutschen und europäischen Gesetze richten – aber sie ist dennoch eine, die Regulierung benötigt. Anderson ermöglicht einen abstrakten, aber komplexen Blick auf die Mechanismen, die Online-Wirtschaft und Netzpolitik in den nächsten Jahren bewegen werden. Für all die, die in diesem schnell veränderlichen Bereich nicht den Überblick verlieren wollen eine unerlässliche Lektüre.

Chris Andersons „The Long Tail – Nischenprodukte statt Massenmarkt“ ist März 2007 in deutscher Sprache erschiedenen. Es ist sowohl im Online- als auch im herkömmlichen Buchhandel erhältlich.

, Telemedicus v. 26.04.2007, https://tlmd.in/a/188

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