Der Straßenverkehr, die Ladenschlusszeiten, die Sicherheit auf Baustellen, die Handwerksberufe – all das sind Bereiche des öffentlichen Lebens, die durch das „Ordnungsrecht“ geregelt werden. Der Staat sorgt mit dem Ordungsrecht dafür, dass die Gesetze eingehalten werden, er beseitigt Gefahren und unterstützt ein geordnetes Zusammenleben der Bürger untereinander, kurz: er kümmert sich darum, „das alles seine Ordnung hat.“ Im Unterschied zu den meisten anderen Rechtsgebieten erlaubt das Ordnungsrecht den Behörden ein präventives Vorgehen: Die Staatsdiener müssen nicht abwarten, bis tatsächlich Gesetze übertreten werden, sondern können im Wege der „Gefahrenabwehr“ schon vorher eingreifen. Das Rechtsgebiet wird so zu einer Art Allzweckwaffe gegen Störungen jeder Art.
Für das Internet existiert allerdings bisher kaum Ordnungsrecht. Einzelne Vorschriften stehen im Telemediengesetz und im Rundfunkstaatsvertrag, eine umfassende Regelung findet sich auch noch im Jugendschutz. Davon abgesehen mischt sich der Staat, soweit es um präventive Aspekte geht, im Internet nicht ein. Das führt dazu, dass staatliche Kontrolle in vielen Bereichen gänzlich fehlt. Woran das liegt, und wie man dies ändern könnte, beantwortet Thorsten Ricke, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Münster.
Herr Ricke, setzt der Staat im Internet überhaupt seine Gesetze durch?
Der deutsche Staat hat im Internet ja schon zunächst einmal das Problem, dass er deutsche Gesetze nicht überall im globalen Internet durchsetzen kann. Aber das ist nicht das einzige Problem. Hinzu kommt, dass es keine einheitliche Aufsichtsbehörde für den Bereich Internet gibt. Für die verschiedenen Facetten an Angeboten gibt es die unterschiedlichsten Aufsichtsbehörden – und das von Bundesland zu Bundesland auch unterschiedlich aufgeteilt. Hier verderben eindeutig zu viele Köche den Brei. Mancherorts scheint zu gelten: „Nimm du ihn, ich hab ihn sicher.“
Woran liegt das?
Das liegt zum Teil auch am Gesetzgeber, der es versäumt hat, sich bei der Frage der Aufsichtsbehörde festzulegen. Sowohl der RStV als auch das TMG überlassen es den einzelnen Ländern, die Entscheidung darüber zu treffen, wer in welchem Bereich die Aufsicht hat. Dass es auch anders geht, haben die Länder schon 2003 im Rahmen des JMStV bewiesen. Dort bestimmt § 20 JMStV, dass die jeweilige Landesmedienanstalt zuständige Aufsichtsbehörde ist.
Aufsichtsbehörden für TMG und RStV:
Quelle: Holznagel/Ricke, Aufsicht im Internet, MMR 08, S. 18ff., Stand: November 2007
Braucht das Internet überhaupt eine ordnungsrechtliche Aufsicht?
Man könnte natürlich argumentieren, dass der Staat sich auf die repressive Verfolgung von Rechtsverstößen mit Hilfe des Strafrechts zurückziehen sollte und ansonsten auf Mittel der Co-Regulierung und Selbstregulierung setzen könnte. Aber gänzlich auf eine ordnungsrechtliche Aufsicht zu verzichten, ist meines Erachtens riskant.
Theoretisch stehen den Ordnungsbehörden, sofern keine speziellen Gesetze eine Eingriffsermächtigung enthalten, die sogenannten „ordnungsrechtlichen Generalklauseln“ zur Verfügung. Diese erlauben der staatlichen Aufsicht, auch auf Gefahren zu reagieren, die der Gesetzgeber bisher nicht gesondert geregelt hat. Seit dem denkwürdigen Versuch der Bezirksregierung Düsseldorf, bestimmte rechtsradikale Seiten im Internet sperren zu lassen, hat sich jedoch keine Ordnungsbehörde mehr auf eine Generalklausel berufen, um im Internet tätig zu werden. Woran liegt das?
Ein aktuelles Gutachten hat ergeben, dass ordnungsrechtliche Generalklauseln im Internet aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ausreichend sind. Zusätzlich kommen hier noch einige Faktoren zusammen: Die Bezirksregierung Düsseldorf war damals heftiger Kritik ausgesetzt (Internet-Zensur etc.). Sie hat sich letztendlich ja nicht gegen die Inhalteanbieter, sondern gegen die Zugangsanbieter gewandt. Die Inhalte blieben also trotzdem im Netz.
Zudem tritt hier wieder das Problem auf, wer überhaupt zuständig ist im jeweiligen Bundesland. Und selbst wenn das geklärt sein sollte, stellt sich die Frage, ob die jeweilige Behörde überhaupt die nötigen personellen Mittel hat, um gegen entsprechende Verstöße vorzugehen. Wenn man sich ansieht, welche Institutionen teilweise für die Aufsicht im Internet zuständig sind, kann man dies schon in Frage stellen.
Lässt der Staat seine Bürger hier nicht „im Regen stehen“? Ist die Gewährleistung einer öffentlichen Ordnung nicht die ureigenste Aufgabe des Staates?
Das ist mir zu einfach. Natürlich muss der Staat die öffentliche Ordnung gewährleisten. Die Demokratie setzt aber auch einen mündigen Bürger voraus. Für die Aufsichtsbehörden – wie für jeden – ist und bleibt das Internet unübersichtlich. Wenn irgendwo ein Haus gebaut wird, kann die Bauaufsicht alles – im wahrsten Sinne des Wortes – „in Augenschein“ nehmen. Wenn wiederholt auf dem Bahnhofsvorplatz Straftaten begangen werden, kann dort eine Überwachungskamera aufgestellt werden. Im Internet ist das nicht so einfach. Dort gibt es keine typischen „Brennpunkte“. Rechtsradikale oder kinderpornografische Inhalte können sich überall finden. Es ist ja nicht so, dass diese nur auf den Seiten „www.nazi.de“ oder „www.kinderpornos.de“ zu finden sind. Hier ist der Staat auch auf die Mithilfe der Bürger angewiesen. Die Landesmedienanstalten investieren daher auch in den letzten Jahren viel Geld in die Förderung der Medienkompetenz.
Wie müsste man tätig werden, um das Problem aufzulösen?
Man müsste hier auf verschiedenen Feldern tätig werden. Aus meiner Sicht müsste zunächst die Aufsicht gebündelt und gestärkt werden. Es kann nicht sein, dass in Deutschland mehrere Dutzend verschiedener Institutionen mit der Internetaufsicht betraut werden. Eine Bündelung bei den Landesmedienanstalten wäre eine Möglichkeit. Diese müssten dann entsprechend personell und finanziell ausgestattet werden.
Daneben sollten die Elemente der Co-Regulierung und Selbstregulierung weiter gestärkt werden. Das im JMStV festgelegte Modell der regulierten Selbstregulierung hat sich ausweislich der Evaluation ja bewährt. Auch die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (PDF) begrüßt ausdrücklich das Mittel der Co-Regulierung und Selbstregulierung. Schließlich muss die Medienkompetenz der Bürger weiter gefördert werden.
Derzeit gibt es in Deutschland 14 Landesmedienanstalten. Wäre es nicht sinnvoller, die Aufsicht bei einer Bundesbehörde zu bündeln, z.B. der Bundesnetzagentur?
Das ist ja ein alter Hut. Diese Frage wird doch schon seit Jahren diskutiert. Die Bündelung bei der Bundesnetzagentur – ähnlich wie z. B. in Großbritannien bei der Ofcom – oder die Schaffung einer „Bundesmedienanstalt“ als einer obersten Bundesbehörde oder einer Anstalt des öffentlichen Rechts, die umfassend für alle elektronischen Medien wie den Rundfunk und sonstige Dienste sowie die Telekommunikation zuständig wäre, ist angesichts der geteilten verfassungsrechtlichen Kompetenzen im Medienbereich aber verfassungsrechtlich nicht möglich.
Möglich wäre es aber auf Dauer, eine gemeinsame Ländermedienanstalt zu bilden. Die bisherigen Landesmedienanstalten könnten dabei – mit anderen Schwerpunkten – beibehalten werden.
Welche Perspektiven sehen sie diesbezüglich?
Was das Modell der regulierten Selbstregulierung und die Förderung der Medienkompetenz angeht, bin ich optimistisch. Die Bündelung der Aufsicht wird dagegen noch schwierig. Hier spielen vor allem Länderinteressen eine Rolle. Erst jüngst wurden in einigen Bundesländern neue Institutionen anstatt der jeweiligen Landesmedienanstalt in die Verantwortung genommen. Bevor aber nicht einmal bundeslandintern die Kompetenz bei einer Landesmedienanstalt gebündelt werden kann, brauchen wir uns wohl über eine gemeinsame Ländermedienanstalt, wie sie schon seit Jahren diskutiert wird, nicht zu unterhalten.
Thorsten Ricke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der öffentlich-rechtlichen Abteilung des Instituts für ITM in Münster. Im Januar 2008 veröffentlichte er gemeinsam mit Prof. Holznagel den Aufsatz „Die Aufsicht im Internet“ MMR 2008, S. 18ff. In den nächsten Wochen erscheint eine Broschüre des ITM im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW zu den Mediennutzerrechten im Fernsehen und Internet.