Steht einem Anschlussinhaber aufgrund eines Provider-Fehlers kein Internet zur Verfügung, kann der Anschlussinhaber für den Ausfall Schadensersatz verlangen. Das hat der BGH Ende Januar entschieden. Seit letzter Woche gibt es das Urteil im Volltext. Wir haben es uns genauer angeschaut.
Der Fall war ein alltäglicher: Ein Kunde hatte mit einem Telekommunikationsunternehmen einen Vertrag über die Bereitstellung eines DSL-Anschlusses abgeschlossen. Damit telefonierte er und wickelte seinen Fax- und Internetverkehr ab. Schließlich wechselte der Kunde seinen Tarif – und prompt gab es Probleme mit dem Anschluss. Im konkreten Fall konnte der Kläger seinen DSL-Internetanschluss ziemlich genau zwei Monate nicht mehr nutzen.
Nach mehreren Mahnungen wurde es dem Nutzer irgendwann zu bunt: Er wechselte den Anbieter und forderte Schadensersatz. Es ging ihm dabei nicht nur um die Mehrkosten des Anbieterwechsels und weil er auf sein Mobiltelefon ausweichen musste. Die Besonderheit: Er verlangte außerdem 50 Euro pro Tag, weil er seinen DSL-Anschluss nicht nutzen konnte.
Die Vorinstanzen sprachen dem Kläger zwar die Mehrkosten für Anbieterwechsel und Mobiltelefon zu. Nutzungsausfall für das Internet könne der Kläger aber nicht geltend machen. So landete der Fall schließlich beim BGH. Dieser musste sich nun explizit mit der Frage auseinandersetzen, ob dem Kläger ein Schadensersatzanspruch für die entgangenen Nutzungsmöglichkeiten seines DSL-Anschlusses zusteht.
Genau das bejahte der BGH – und gab dem Kläger damit Recht. Die Vorinstanz hatte noch argumentiert, das Mobiltelefon reiche als „Internetersatz“ aus:
Das Berufungsgericht hat gemeint, eine Nutzungsentschädigung für den Ausfall seines Telekommunikationsanschlusses stehe dem Kläger nicht zu. Eine derartige Entschädigung sei dem Geschädigten nur dann zu gewähren, wenn ihm Güter, deren Verfügbarkeit für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung von zentraler Bedeutung seien, nicht zur Verfügung stünden. (…) [Bei Telefonfestnetzanschluss und dem Internetzugang] sei es durchaus diskutabel, die überragend wichtige Bedeutung für die eigenwirtschaftliche Lebensführung zu bejahen. Jedoch habe der Kläger ein Mobiltelefon als Ersatz für den ausgefallenen Anschluss eingesetzt und die hierdurch entstandenen Kosten als Schadensposition geltend gemacht. (…) Ein Schaden entstehe dem Kunden daher nicht, weil die erforderlichen Mehrkosten zu ersetzen seien.
Das Grundproblem hatte das LG Koblenz also bereits erkannt. Der BGH sah es aber etwas differenzierter.
Der BGH blieb dabei seiner Linie treu. Im deutschen Schadensrecht greift der Grundsatz der Naturalrestitution: Man bekommt nur das ersetzt, was bei einem hypothetischen Vergleich der Sachlage vor und nach einem schädigenden Ereignis vermindert ist. Schadensersatz für den reinen Nutzungsausfall gibt es grundsätzlich nicht. „Grundsätzlich” heisst bei deutschen Juristen aber: solange keine Ausnahme greift.
Eine solche Ausnahme sah der BGH hier im sog. „Kommerzialisierungsgedanken”:
Der Ersatz für den Verlust der Möglichkeit zum Gebrauch einer Sache muss grundsätzlich Fällen vorbehalten bleiben, in denen die Funktionsstörung sich typischerweise als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt. Andernfalls bestünde die Gefahr, unter Verletzung des § 253 BGB die Ersatzpflicht auf Nichtvermögensschäden auszudehnen. Auch würde dies mit den Erfordernissen von Rechtssicherheit und Berechenbarkeit des Schadens in Konflikt geraten (…). Deshalb beschränkt sich der Nutzungsausfallersatz auf Sachen, deren ständige Verfügbarkeit für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist (…) und bei denen die Nutzungseinbußen an objektiven Maßstäben gemessen werden können (…).
Sprich: Geld für einen so genannten „Nichtvermögensschaden” gibt es nur im Falle des § 253 BGB, nämlich wenn ein Gesetz dies besonders bestimmt. Beliebtes Beispiel: Entgangene Urlaubsfreuden, § 651f Abs. 2 BGB. Oder es liegt – wie hier – eine besondere Situation vor, in der es um Dinge geht, die „für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung” sind – das ist der so genannte Kommerzialisierungsgedanke.
Der BGH musste sich schon öfter damit befassen, was vom Kommerzialisierungsgedanken erfasst ist. Wohnmobil, Wohnwagen, Motorsportboot, privates Schwimmbad, Pelzmantel? Nein, hier liege nur eine „individuelle Genussschmälerung” vor und kein vermögensrechtlicher Schaden. Kraftfahrzeuge, Wohnhäuser, Ferienwohnungen? Ja. Und andere Gerichte haben Ersatz beispielsweise auch schon für Fernsehgeräte zugesprochen – und für PCs oder den Laptop für möglich gehalten, so der Hinweis des BGH.
Was nun das Internet angeht: Es gesellt sich zu Autos und Fernsehern. Das ist der zentrale Punkt der BGH-Entscheidung:
Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut, dessen ständige Verfügbarkeit seit längerer, jedenfalls vor dem hier maßgeblichen Jahreswechsel 2008/2009 beginnender Zeit auch im privaten Bereich für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist und bei dem sich eine Funktionsstörung als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt.
Das gelte übrigens auch für ein Festnetztelefon, nicht aber für ein Faxgerät, stellte der BGH ebenfalls fest. Bereits die Vorinstanz habe so argumentiert. Fälschlicherweise habe das LG aber ohne weitere Prüfung unterstellt, dass man mit dem Mobiltelefon das Internet nutzen konnte – und deshalb fehlerhaft den Anspruch des Klägers verneint.
Was macht das Internet nun so besonders? Der BGH zählt dazu besondere Eigenheiten wörtlich auf:
Das Internet stellt weltweit umfassende Informationen in Form von Text-, Bild-, Video- und Audiodateien zur Verfügung. Dabei werden thematisch nahezu alle Bereiche abgedeckt und verschiedenste qualitative Ansprüche befriedigt. So sind etwa Dateien mit leichter Unterhaltung ebenso abrufbar wie Informationen zu Alltagsfragen bis hin zu hochwissenschaftlichen Themen. Dabei ersetzt das Internet wegen der leichten Verfügbarkeit der Informationen immer mehr andere Medien, wie zum Beispiel Lexika, Zeitschriften oder Fernsehen. Darüber hinaus ermöglicht es den weltweiten Austausch zwischen seinen Nutzern, etwa über E-Mails, Foren, Blogs und soziale Netzwerke. Zudem wird es zunehmend zur Anbahnung und zum Abschluss von Verträgen, zur Abwicklung von Rechtsgeschäften und zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten genutzt (von der unübersehbaren Vielfalt z.B. nur: Fernabsatzkäufe, Hotel-, Bahn- und Flugbuchungen, Erteilung von Überweisungsaufträgen, Abgabe von Steuererklärungen, An- und Abmeldung der Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie der Müllabfuhr, Verifikation von Bescheinigungen). Nach dem unbestritten gebliebenen Sachvortrag des Klägers bedienen sich nahezu 70 % der Einwohner Deutschlands des Internets, wobei dreiviertel hiervon es sogar täglich nutzen. Damit hat sich das Internet zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht.
Weil das Internet so vielfältig sei, präge es entscheidend die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung, schlussfolgert also der BGH. Kritiker meinen nun, man könne diesen Schluss womöglich nicht mehr ziehen, stelle man nur auf einzelne dieser Eigenschaften ab. Allerdings sagt auch der BGH einschränkend, man müsse sich orientieren an „Werten, die der Verkehr dem Interesse an der konkreten Nutzung beimisst” – maßgeblich ist also die Verkehrsauffassung. Würde aber die Verkehrsauffassung das Internet nur nach seinen einzelnen Eigenschaften beurteilen? Wohl eher nicht. Dennoch kann man sich fragen: Genügt eine relativ unstrukturierte Aufzählung der Vorteile des Internets, um die zentrale Bedeutung zu unterlegen? Immerhin, es deutet viel darauf hin, dass der BGH seine Entscheidung hier sehr gründlich durchdacht hat.
Dass ein Großteil der Bevölkerung betroffen ist, konnte der BGH übrigens ungeprüft voraussetzen. Der Kläger hatte vorgetragen, dass 70 Prozent der Deutschen das Internet nutzten – drei Viertel davon sogar täglich. Dem setzte der Beklagte (wohlweislich?) nichts entgegen – eine zugestandene Tatsache, § 138 Absatz 3 ZPO.
Der Kläger hat auf der Zielgeraden also Recht bekommen. Pauschal 50 Euro dürften es aber eher nicht werden. Der BGH führt aus, dass der Kläger nur verlangen kann, „was die Einsatzfähigkeit der Sache für den Eigengebrauch dem Verkehr in Geld wert ist”:
Auf die vorliegende Fallgestaltung übertragen bedeutet dies, dass der Kläger einen Betrag verlangen kann, der sich nach den marktüblichen, durchschnittlichen Kosten richtet, die für die Bereitstellung eines DSL-Anschlusses mit der vereinbarten Kapazität ohne Telefon- und Faxnutzung für den betreffenden Zeitraum angefallen wären (…).
„Das Internet ist für Lebenshaltung von zentraler Bedeutung”. Netzaffinen dürfte dieser Satz mit Wohlbehagen von der Zunge gehen. Doch die Entscheidung geht weit darüber hinaus. Sie berücksichtigt den Wandel zur Informationsgesellschaft, der längst vollzogen ist. Wenn Fernseher und Telefon dem Kommerzialisierungsgedanken unterfallen, muss das auch für das Internet gelten – allerdings mit dem leichten Beigeschmack, dass es sich hierbei um etwas handelt, was nicht als Sache greifbar ist. Ob und wie sich das an anderer Stelle auswirken wird, kann man nur mutmaßen.
Auch ein berechtigter Einwand: Der Kommerzialisierungsgedanke verwässert, je mehr Sachen darunter fallen. Dem versucht der BGH zu begegnen, indem er sehr restriktiv damit umgeht. Das ändert aber nichts am Grundproblem, das Wolf und Schmitz treffend ausdrücken: „Das Abgrenzungskriterium «fühlbarer Nutzungsausfall eines wichtigen Wirtschaftsguts» vermag in einer Zeit, wo wir fast alles kaufen können und an Geld alles messen, nicht mehr richtig zu überzeugen”. Aber: Dass ein Markt für ein Wirtschaftsgut existiert, soll laut BGH allein gerade kein Kriterium sein. Nur nach dem „in Geld messbaren Nachteil” zu entscheiden, würde die Kommerzialisierung überdehnen. Wie er sich aus diesem Dilemma löst, wird erst die Zukunft zeigen.
Vielfach unternahm man auch bereits den Versuch, Schlüsse für die Beurteilung der Netzneutralität zu ziehen – die zentrale Bedeutung für die Lebenshaltung müsse einer subjektiven Regulierung durch die Provider entgegenstehen. Das ist zunächst ein naheliegender Gedanke. Man darf dabei aber nicht vergessen: Es ging hier um einen Schadensersatzprozess. Die Bedeutung des Internets hat der BGH bezogen auf die Kommerzialisierung festgestellt. Inwieweit man also weitergehende Schlüsse ziehen kann, muss man im jeweiligen Zusammenhang ganz konkret untersuchen.
Das Urteil im Volltext.
Telemedicus zum Urteil auf Basis der Pressemitteilung.