Der Erschöpfungsgrundsatz ist einer der wichtigsten Grundsätze des Immaterialgüterrechts. Wirklich neu ist er aber nicht. Eigentlich, so schien es, war zu dem Thema schon vor Jahrzehnten alles Wichtige gesagt. Nun ist aber mit zwei wichtigen Entscheidungen des EuGH neue Bewegung in das Thema gekommen. Der Gerichtshof rückt in seiner Rechtsprechung gefährlich nahe an einen Grundsatz der immateriellen Erschöpfung – und könnte damit einen Paradigmenwechsel eines ganzen Rechtsgebiets herbeiführen.
Der Erschöpfungsgrundsatz besagt in einfachen Worten ausgedrückt: Wenn ein immaterialgüterrechtlich geschütztes Produkt in den Handel kommt, kann es frei weiterveräußert werden – der Schutzrechteinhaber verliert die Möglichkeit, die Weiterveräußerung zu kontrollieren. Er kann sie weder verhindern, noch kann er für sie eine Vergütung verlangen.
Deswegen können z.B. CDs, DVDs oder Bücher gebraucht weiterveräußert werden, obwohl sie urheberrechtlich geschützte Werke enthalten. Die Rechteinhaber haben zwar theoretisch das Recht, ausschließlich zu entscheiden, wann und wie das Produkt verbreitet wird (§ 17 Abs. 1 UrhG). Nachdem die Werkexemplare einmal in den Verkehr gekommen sind, „erschöpft” sich dieses Recht aber. So steht es in § 17 Abs. 2 UrhG:
Sind das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werkes mit Zustimmung des zur Verbreitung Berechtigten im Gebiet der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Veräußerung in Verkehr gebracht worden, so ist ihre Weiterverbreitung mit Ausnahme der Vermietung zulässig.
Wichtig ist dabei die Voraussetzung, dass die Verkörperung des Werks einmal legal innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums in Verkehr gebracht worden sein muss. Man spricht insofern vom „Grundsatz der gemeinschaftsweiten Erschöpfung”: Was einmal innerhalb der EU legal verkauft wurde, kann nicht an Landesgrenzen mit dem Argument gestoppt werden, für dieses Land liege keine Verbreitungs-Lizenz vor. Das Urheberrecht beugt sich insofern der EU-Warenverkehrsfreiheit (Art. 35, 36 AEUV).
Bisher galt dies aber immer nur für die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 und 35 AEUV). Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) blieb unbeeinträchtigt – hier galten andere Regeln. Deshalb war ein körperliches Werkstück für den Urheber der verkörperten Werke nach dem Inverkehrbringen (abgesehen von wenigen Ausnahmeregeln) „verloren”. Da sein Verbreitungsrecht sich erschöpft hatte, blieb ihm weder eine Kontrolle über die Nutzung dieses Werkstücks, noch war er bei dessen Weiterveräußerung finanziell zu beteiligen.
Anders bei immateriellen Verwertungsarten: Im Grundsatz war jede neue unkörperliche Verwertung eines Werkes lizenzpflichtig. Wer einen Film einmal ausgesendet hat, darf das nicht automatisch ein zweites Mal. Und wer das Recht eingeräumt bekommen hat, z.B. ein Musikstück öffentlich zugänglich zu machen, der muss dieses Recht selbst ausüben; er darf seine Lizenz nicht ohne Genehmigung des Rechteinhabers weiter-übertragen. Die Nicht-Erschöpfung von unkörperlichen Verwertungsrechten galt lange als eherner Grundsatz des Immaterialgüterrechts und wurde von dessen Dogmatikern auch energisch verteidigt.
Dass der EuGH die Axt an die Trennung von materieller und immaterieller Erschöpfung legen würde, deutete sich zum ersten Mal an, als die Generalanwältin Kokott ihre Schlussanträge in dem Fall Murphy einreichte: In ihren Anträgen sprach sie erstmals davon, es sei „überraschend”, dass im Bereich der Dienstleistungsfreiheit andere Maßstäbe gelten sollten als bei der Warenverkehrsfreiheit. In der Folge forderte sie ohne Umschweife – und ohne besonders hervorzuheben, wie weitreichend diese Forderung war – eine Ausweitung des Erschöpfungsgrundsatzes auf die immaterielle Verwertung.
Der EuGH ist bekanntlich den Schlussanträgen der Generalanwältin im Ergebnis gefolgt. In seiner Entscheidung zum Fall Murphy (Rs. C-429/08) entschied er, dass die britische Football Association Premier League (FAPL) innerhalb der EU keine territorialen, gegeneinander abgeschotteten Exklusivlizenzen vergeben darf. Das Wort „Erschöpfung” vermied er dabei allerdings. Die Entscheidung blieb, nicht nur in diesem Punkt, undeutlich – und ließ damit die europäische Medienindustrie einigermaßen ratlos zurück. Denn der EuGH hatte zwar über den konkreten Fall von Fußballrechten und Pay-TV entschieden, dabei aber kaum geäußert, was nun für andere Medienrechte oder Verwertungsarten gelten sollte. Was ist mit Filmen, die häufig in zeitlich getrennten Verwertungsfenstern exklusiv ausgewertet werden? Was ist mit Musikrechten, die üblicherweise territorial begrenzt vergeben werden? Dies blieb offen – und ist im wesentlichen bis heute offen geblieben.
Einige Klarheit brachte allerdings die Entscheidung des EuGH im Fall Usedsoft (Rs. C-128/11), die im Juli erging.
Über die Usedsoft-Entscheidung hat Telemedicus bereits geschrieben. Der Sache nach geht es in dem Urteil um den Handel mit Gebrauchtsoftware. Hier war in der Vergangenheit stark umstritten, ob körperliche Werkstücke von Software (z.B. auf DVDs) gebraucht weiterverkauft werden dürfen. Hier entschieden die Gerichte, vereinfacht formuliert, dass eine solche Weiterveräußerung zulässig ist: Der Erschöpfungsgrundsatz lässt es zu, weil es sich bei einem Datenträger um eine Verkörperung eines Nutzungsrechtes handelt. Der Streit, den der EuGH zu entscheiden hatte, war aber schon einen Schritt weiter: In dem Fall ging es um die Weiterveräußerung von Software, die überhaupt nur per Download bereitgestellt worden war. Der Software-Hersteller hatte also nie eine Verkörperung des Werkstücks „in Verkehr gebracht”. Das einzige, was er wirklich (untechnisch gesprochen) „verkauft” hatte, war eine Lizenz. Diese nutzte der Kunde, um eine Software vom Server des Anbieters herunterzuladen und direkt zu installieren.
Im Ergebnis erklärte der EuGH auch die Weiterveräußerung solcher Lizenzen für zulässig. Unter Zuhilfenahme einer etwas seltsamen Wortwahl – er spricht statt von einer Lizenz von einer „unkörperlichen Kopie” – behauptet er, auch hier gelte dem Gedanken nach der Erschöpfungsgrundsatz:
Zum Vorbringen der Kommission, das Unionsrecht sehe für Dienstleistungen keine Erschöpfung des Verbreitungsrechts vor, ist festzustellen, dass der Zweck des Grundsatzes der Erschöpfung des Rechts auf Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke darin besteht, die Einschränkungen der Verbreitung dieser Werke auf das zum Schutz des spezifischen Gegenstands des betreffenden geistigen Eigentums Erforderliche zu begrenzen, um so eine Abschottung der Märkte zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. April 1998, Metronome Musik, C-200/96, Slg. 1998, I-1953, Randnr. 14, vom 22. September 1998, FDV, C-61/97, Slg. 1998, I-5171, Randnr. 13, sowie Urteil Football Association Premier League u. a., Randnr. 106).
Würde die Anwendung des Grundsatzes der Erschöpfung des Verbreitungsrechts nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2009/24 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf Programmkopien beschränkt, die auf einem materiellen Datenträger gespeichert sind, könnte der Urheberrechtsinhaber den Wiederverkauf von aus dem Internet heruntergeladenen Kopien kontrollieren und bei jedem Wiederverkauf erneut ein Entgelt verlangen, obwohl ihm bereits der Erstverkauf der betreffenden Kopie ermöglicht hat, eine angemessene Vergütung zu erzielen. Eine solche Beschränkung des Wiederverkaufs von aus dem Internet heruntergeladenen Programmkopien ginge über das zur Wahrung des spezifischen Gegenstands des fraglichen geistigen Eigentums Erforderliche hinaus (vgl. in diesem Sinne Urteil Football Association Premier League u. a., Randnrn. 105 und 106). […]
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2009/24 dahin auszulegen ist, dass das Recht auf die Verbreitung der Kopie eines Computerprogramms erschöpft ist, wenn der Inhaber des Urheberrechts, der dem möglicherweise auch gebührenfreien Herunterladen dieser Kopie aus dem Internet auf einen Datenträger zugestimmt hat, gegen Zahlung eines Entgelts, das es ihm ermöglichen soll, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen, auch ein Recht, diese Kopie ohne zeitliche Begrenzung zu nutzen, eingeräumt hat.
Der EuGH widerspricht an dieser Stelle nicht nur ausdrücklich der Kommission, die noch auf der Trennung von körperlicher und unkörperlicher Verwertung beharrt hatte. Er bezieht sich mit seiner Behauptung, der Erschöpfungsgrundsatz verlange auch nach Geltung beim Vertrieb per Download, auch ausdrücklich auf die Murphy-Entscheidung (die hier als „Urteil Football Association Premier League” bezeichnet ist).
Ob der EuGH hier wirklich den unkörperlichen Erschöpfungsgrundsatz aus dem Hut gezaubert hat, ist fraglich: Wirklich deutlich drückt er sich leider wieder einmal nicht aus. Auf der anderen Seite ist aber festzuhalten: Der Gerichtshof geht hier einen ganzen Schritt weiter, als er das in der Murphy-Entscheidung noch getan hatte.
Die Usedsoft-Entscheidung bezog sich auf Software, und damit auf einige spezielle europarechtliche Regelungen. Ob die Entscheidung, auch auf andere Werk- und Verwertungsarten übertragen lässt, wird bisher unterschiedlich eingeschätzt (ablehnend Stieper, ZUM 2012, 668, 670, v. Welser, GRUR-Prax 2012, 326, eher zustimmend Grützmacher im CMS-Blog, Kreutzer auf Golem.de). Ich persönlich denke, dass der EuGH sich mit den Grundsätzes der Usedsoft-Entscheidung auch auf andere Verwertungsbereiche bezieht. Der Gerichtshof nimmt an den zentralen Stellen des Urteils mehrfach auf andere Entscheidungen Bezug, bei denen es nicht um Software ging. Insbesondere fällt auf, dass er nun nachträglich die Murphy-Entscheidung doch in Bezug zu der Idee eines nichtkörperlichen Erschöpfungsgrundsatzes setzt.
Setzt der EuGH seine Rechtsprechung konsequent fort, dann muss gelten: Wer ein immaterielles Nutzungsrecht erwirbt, darf dieses zukünftig innerhalb der gesamten EU ausbeuten – selbst dann, wenn die Lizenz territorial beschränkt war. Er darf diese Lizenz außerdem auch auf Dritte übertragen – selbst dann, wenn der Rechteinhaber ihm das nicht erlaubt hat. Die Frage, ob es zuvor ein verkörpertes Werkstück gab (z.B. eine CD oder eine Filmkopie), dürfte für diese Rechtsfolge nunmehr keine Rolle mehr spielen. Für unkörperliche Lizenzen gilt dasselbe wie für körperliche Werkstücke.
Die Murphy-Entscheidung, die in wesentlichen Aspekten noch unklar geblieben war, bekommt damit genau die Bedeutung, die von den Rechteinhabern befürchtet worden war: Nachträglich wird sie so doch noch zum „Game Changer”. Auch außerhalb von Fällen, in denen das Kartellrecht greift, wird damit sowohl eine Territorialisierung von Lizenzen, als auch eine Beschränkung des Rechts, Unterlizenzen zu verleihen, immer schwerer – wenn nicht sogar unmöglich. Auch wenn vieles weiterhin unklar bleibt: Die Tendenz des EuGH, Lizenzrechte in die Richtung von frei handelbaren Wirtschaftsgütern umzudeuten, ist offensichtlich. Die Kreativwirtschaft wird sich darauf einstellen müssen.
Gerrit Hötzel auf Telemedicus zur Usedsoft-Entscheidung.
Zeit Online zum Streit, wie das Usedsoft-Urteil zu interpretieren ist.