In der aktuellen K&R (K&R 2010, S. 95 ff.) ist ein Aufsatz von Prof. Holznagel unter dem Titel „Netzneutralität als Aufgabe der Vielfaltssicherung” erschienen. Der Aufsatz fasst nicht nur die bisherige wissenschaftliche Entwicklung zum Thema Netzneutralität zusammen, er präsentiert auch einen interessanten neuen Ansatz, der m.W. bisher nicht diskutiert wurde.
Der Aufsatz führt zunächst allgemein in die Auseinandersetzung um die Netzneutralität ein, erklärt die Begrifflichkeiten und beschreibt die Initiativen, die die FCC in den USA unternommen hat (hierzu Dr. Simon Schlauri bei Telemedicus).
Das Problem – warum Netzneutralität sichern?
Holznagel geht auch auf die Frage ein, warum die Netzneutralität überhaupt in Gefahr ist: Die Breitband-Kommunikationsnetze werden aktuell zu Next Generation Networks (NGN) umgebaut. Den Aufbau eines NGN beschreibt er wie folgt:
Der Datenverkehr kann dann z.B. je nach Art dieses Dienstes, Netzbelastung, benötigter Bandbreite, möglicher Konkurrenz für die eigenen Angebote priorisiert und gesondert abgerechnet werden. Zudem wird es möglich, Pakete eindeutig zu markieren und diese zum Beispiel zu verlangsamen oder im Transport zu blockieren. Die eigenen IP-TV-Angebote lassen sich damit über Datenströme mit hoher Priorität vom restlichen Internetverkehr separieren und über die Leistungen zum Endkunden verbreiten. Damit entsteht die Gefährdungslage, vor die die Internetcommunity immer gewarnt hat.
Zusammengefasst: Sobald die Telekommunikations-Netzwerke zu NGN ausgebaut sind, sind Eingriffe in die Netzneutralität nicht mehr die Ausnahme, sondern der Standard.
Der Rechtsrahmen – welche öffentlich-rechtlichen Aspekte hat Netzneutralität?
Im späteren Verlauf des Aufsatzes führt Holznagel aus, warum der Grundsatz der Netzneutralität seiner Meinung nach Verfassungsrang hat:
Hier ist zu berücksichtigen, dass das Internet heute zur kommunikativen Grundversorgung (Art. 5, 87 f. GG) der Bevölkerung gehört: Mit dem Internet ist ein historisch einmaliger Kommunikationsraum entstanden. Der Bürger kann sich aus einer bisher nicht gekannten Vielzahl von Quellen informieren. Ohne Verleger oder Rundfunkanbieter einzuschalten, kann er mit seiner Meinungsäußerung die (Cyber-)Öffentlichkeit erreichen. [1] Das Internet ist für alle Bevölkerungsschichten maßgeblich, [2] um an den Segnungen von E-Commerce oder E-Government teilzuhaben. Der Gesetzgeber ist daher schon von Verfassungs wegen aufgerufen, Gefährdungen für eine freie und offene Internetkommunikation entgegenzutreten. [3] Daraus folgt, dass jedenfalls der Zugang zum Internet oder – anders ausgedrückt – eine Versorgung mit Internetdiensten sicherzustellen ist. [4]
(Fußnoten unten)
Holznagel greift hier – m.W. das erste Mal in der juristischen Literatur – beim Aspekt der Netzneutralität das Argument der Vielfaltssicherung auf. Wie auch schon mein Artikel bei Telemedicus begreift er Netzneutralität als „kommunikative Chancengleichheit“ und begründet damit ihre verfassungsrechtliche Stellung. Abzuwägen ist der Grundsatz der Netzneutralität aber, so Holznagel, mit dem Eigentums-Grundrecht der Netzbetreiber (Art. 14 GG): Diese haben ein Recht daraus, selbst zu entscheiden, was über ihre Netze läuft. Sein Ansatz läuft damit auf eine Ausgleichslösung heraus: Das Eigentumsgrundrecht der Netzbetreiber (Art. 14 GG) einerseits und die Netzneutralität (Art. 5, Art. 87 GG) andererseits müssen ausgeglichen werden.
Der Lösungsvorschlag – must carry-Regeln auch für Internetprovider
Daraus leitet Holznagel dann seinen neuen Ansatz her: Die Anwendung von must carry-Regeln.
Rechtstechnisch könnte man [den Ausgleich des Eigentumsrechts der Netzbetreiber mit dem Anspruch auf Netzneutralität] umsetzen, indem man die für die kommunikative Grundversorgung erforderlichen Internetdienste in den Must-Carry-Bereich aufnimmt. Must-Carry-Regeln werden dazu genutzt, um sicherzustellen, dass die für die Öffentlichkeit notwendigen Dieste von den Netzbetreibern verbreitet werden.
„Must carry” ist ein Begriff, der eigentlich aus dem Rundfunkrecht stammt: In Kabelnetzen definieren die Aufsichtsbehörden einen bestimmten Teil der Übertragungskapazität der Kabel als sog. must carry-Bereich, in dem sie bestimmen, welche Inhalte transportiert werden. Dem Kabelnetzbetreiber wird also quasi ein Teil seines Kabels weggenommen und für öffentliche Mittel verwendet – üblicherweise ist das der Transport der öffentlich-rechtlichen Rundfunksendungen. Solche must carry-Regeln finden sich z.B. in den §§ 50 ff. RStV (insb. § 52b RStV) oder Art. 31 der Universaldienst-Richtlinie.
Auch wenn Holznagel von „Internetdiensten” spricht, kann er m.E. nur das neutrale Internet als Gesamtheit gemeint haben. Anders als bei den herkömmlichen must-carry-Regeln ginge es dann nicht um konkrete Inhalte, bzw. Inhaltebouquets, sondern um einen allgemeinen, unverzerrten Zugang zum Internet.
Der Aufsatz weiter:
Die verfügbare Kapazität muss vom Gesetzgeber oder einer Regulierungsbehörde in einer Weise aufgeteilt werden, dass ein funktionsfähiges Internet gewährleistet ist. […] Ausnahmen von diesem Grundsatz dürfen nur zugelassen werden, wenn dies aus Gründen der Verfolgung illegaler Inhalte, der zeitweiligen Netzüberlastung oder der Netzintegrität erforderlich ist. Es wäre Aufgabe der Regulierungsbehörde, diesen Regelungsansatz näher zu operationalisieren.
Holznagel sagt also, zusammengefasst:
Insgesamt finde ich diesen Ansatz von Holznagel äußerst einleuchtend. Er löst ein hochkompliziertes Problem durch ein einfaches Rechtsmodell, das noch dazu in einem anderen, verwandten Rechtsgebiet bereits ausführlich erprobt ist. Beide Seiten können ihre Probleme lösen: Die Netzbetreiber behalten die Möglichkeit, ihr eigenes Netz zu managen, sie können eigene Dienste priorisieren, und sie können Qualitiy of Service-Dienste wie IPTV oder VoIP anbieten. Gleichzeitig bleibt die Internetanbindung neutral genug, um auch Newcomern unter den Internet-Inhalteanbietern eine Chance zu bieten – und auch die kommunikative Chancengleichheit der Internet-User bleibt im Wesentlichen gewahrt.
Als brisante Frage im Hintergrund steht allerdings, wie groß der „neutrale” Teil der Kapazität sein soll, bzw. nach welchen Kriterien dieser zu bestimmen ist. Denn all die gerade beschriebenen Vorteile des Modells treten nur ein, wenn der neutrale Bereich die Mehrheit der vorhandenen Kapazität ausmacht. Ungelöst bleibt auch ein weiteres Problem: Die Netzneutralität ist nicht nur durch die Kabelnetzbetreiber gefährdet, sondern auch durch den Staat selbst. Dieser könnte – unter dem Vorwand, illegale Inhalte zu bekämpfen, was Holznagel zulassen will – die Kommunikation im Internet einschränken oder verzerren. Dies ist letztlich aber ein zusätzliches Problem, was über must carry-Regeln nicht zu lösen ist.
Telemedicus zu einem weiteren Artikel von Ansgar Koreng.
Simon Schlauri zum Ansatz der FCC.
Die zitierten Fußnoten:
[1] Holznagel, Erosion demokratischer Öffentlichkeit?, VVDStRl 68 (2008), 382, 391 ff.; Neuberger, Internet, Journalismus und Öffentlichkeit, in: Neuberger/Neurnbergk/Rischek (Hrsg.), Journalismus im Internet, 2009, S. 9, 39.
[2] Zur angemessenen Verbreitung und Nutzung des Internets vgl. nur van Eimeren/Frees, Media Perspektiven 2008, 330.
[3] Mecklenburg, ZUM 1997, 525; Koreng, CR 2009, 759.
[4] Ebenso aus ökonomischer Sicht picot, Workshop Next („Now“) Generation Access (NGA): How to Adapt the Electronic Communications Framework to Foster Investment and Promote Competition Framework to Foster Investment and Promote Competition for the Benefit of Consumers? […] S. 22.
Hinweis: Prof. Holznagel ist auch Kooperationspartner und Förderer von Telemedicus.