Wikipedia.de verlinkt nicht mehr auf die Wikipedia: Statt dessen steht dort nur ein Text, in dem auf eine Einstweilige Verfügung des LG Lübeck verwiesen wird. Wie ist es dazu gekommen? Wir erklären die rechtlichen und sachlichen Hintergründe.
Wer hat die Einstweilige Verfügung beantragt?
Laut den Infos auf wikipedia.de stammt die Verfügung von Lutz Heilmann, Mitglied des Bundestags in der Fraktion „Die Linke“. Nach Berichten auf Heise.de dreht sich der Streit um die Frage, ob die Immunität des Abgeordneten wegen einer angeblich bedrohenden SMS aufgehoben worden sei oder nicht: Heilmann behauptet nein, Wikipedia hatte offenbar behauptet ja. Zu tun hat der Streit vermutlich auch mit der Stasi-Vergangenheit von Heilmann.
Warum wird nur Wikipedia.de gesperrt, nicht der eigentliche Artikel in der Wikipedia?
Der Hintergrund ist der organisatorische Aufbau der Wikipedia. Die Wikipedia gehört nämlich organisatorisch komplett zur Wikimedia Foundation. Das ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Florida, USA. Diese Organisation betreibt die meisten Wikipedia-Server (ist also „Host-Provider“ der Wikipedia) und hält auch die Namensrechte. Auf diese Organisation ist rechtlich nur sehr schwer zuzugreifen: Viele Anwälte kennen nicht einmal die Organisationsstruktur hinter der Wikipedia, hinzu kommen Schwierigkeiten mit der Frage nach dem anwendbaren Recht, Haftungsprivilegien im US-Recht, bei der Zustellung von Gerichtsverfügungen und in der Vollstreckung.
Viele Anwälte suchen daher, wenn sie gegen Wikipedia-Artikel vorgehen wollen, nach jemandem, den sie in Deutschland verklagen können. Hier greifen sie häufig auf die Wikimedia e.V., bzw. deren Mitglieder zurück. Wikimedia e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der in Deutschland sitzt und in Deutschland als „Sprachrohr“ der Wikipedia-Bewegung funktioniert. Er versteht sich zwar als „Chapter“ der Wikimedia Foundation, ist rechtlich mit ihr aber nicht verbunden. Die einzige Verbindung ist die: Wikimedia e.V. ist Eigentümer der Domain wikipedia.de. Diese Domain verwies ursprünglich auf die deutsche Unterseite der internationalen Wikipedia-Seite, die de.wikipedia.org. Nach einem Rechtsstreit in der Vergangenheit hatte Wikimedia jedoch auch schon diese Praxis aufgegeben und bot nur noch eine Suchmaschine an. Auch die wurde nun, wegen der aktuellen Einstweiligen Verfügung, abgeschaltet.
Was sind die rechtlichen Hintergründe?
Der Streit berührt die grundsätzlichen Fragen rund um die Haftung für Inhalte im Internet. Wikimedia e.V. ist weder Provider noch Urheber der streitgegenständlichen Inhalte. Sie helfen mit ihrer Domain-Weiterleitung nur dabei, dass deren Inhalte verbreitet werden können – wenn auch nur sehr indirekt. Diese Art des „Helfens“ könnte aber dazu führen, dass Wikimedia e.V. für Wikipedia-Inhalte in Mitstörerhaftung genommen werden kann. Ob das wirklich so ist, ist fraglich: Mitstörer ist eigentlich nach ständiger Rechtsprechung nur, wer „in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zur Verletzung einer Urheberrechts beiträgt, sofern er die rechtliche Möglichkeit zur Verhinderung dieser Handlung hatte und er eine ihm zumutbare Prüfungspflicht verletzt“ (exemplarisch: BGH – Internetversteigerung II). Hier ist gleich an mehreren Stellen fraglich, ob diese Kriterien auf Wikimedia e.V. zutreffen. Zum einen ist fraglich, ob die Weiterleitung über die Domain wirklich „kausal“ (ursächlich) für die Rechtsverletzung geworden ist. Ebenso ist fraglich, ob die Tatbestandsmerkmale „willentlich“ und „adäquat“ (nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegend) erfüllt sind. Zuletzt ist auch fraglich, inwiefern von Wikimedia e.V. Prüfungspflichten erwartet werden können. Zu der Frage liegen bisher keine Entscheidungen vor – das LG Köln hat sie in einem Urteil vom Mai 2008 absichtlich offengelassen.
Wie geht es nun weiter?
Nach eigenen Angaben wird Wikimedia rechtlich gegen die Einstweilige Verfügung vorgehen. Das Verfahren befindet sich bisher im einstweiligen Rechtsschutz, d.h. die Gerichte entscheiden relativ schnell, häufig innerhalb weniger Tage. Das LG Lübeck, das die aktuelle Einstweilige Verfügung verabschiedet hat, hat Wikimedia e.V. möglicherweise bisher noch nicht einmal angehört – das würde dann demnächst nachgeholt werden (§ 942 Abs. 1 ZPO). Gut möglich, dass Wikimedia e.V., bzw. deren anwaltliche Vertreter, bereits dann die einstweilige Verfügung wieder aus der Welt schaffen können. Auch das wird jedoch möglicherweise einige Tage, wenn nicht Wochen oder Monate, dauern. Bis dahin müssen die Wikipedia-Nutzer auf die Startseite de.wikipedia.org zurückgreifen – und bis dahin muss Lutz Heilmann wohl mit einer Publicity rechnen, die er so ganz und gar nicht wollte.
Dieser Artikel basiert auf den (wenigen) Informationen, die bisher zur Verfügung stehen. Die Pressesprecherin von Wikimedia e.V. hat versprochen, mich auf dem Laufenden zu halten. Wenn es Neuigkeiten gibt, trage ich die hier nach. (Update unten)
Zum Urteil des LG Köln in einem ähnlichen Fall.
Anschauliche Darstellung zur Störerhaftung auf IP Notiz.
Biographie von Lutz Heilmann auf den Webseiten des Bundestags. (Die eigene Webseite von Heilmann steht, aus welchen Gründen auch immer, seit ca 12:00 nicht mehr im Netz)
Die aktuelle Startseite von Wikipedia.
Update 15.11.08: Mehr zum Hintergrund
Ein Artikel in der Lokalzeitung „Lübecker Nachrichten“ erklärt den Hintergrund der Streitigkeiten: Es geht um parteiinterne Machtkämpfe, einen ehemaligen Mieter und eine Webseite namens „Flutsch-Express“. Wir machen uns die Inhalte des verlinkten Artikels ausdrücklich nicht zu eigen.
Zum Artikel in den Lübecker Nachrichten.
Update 16.11.08: Pressemitteilung und Blog-Eintrag bei Wikimedia
Wikimedia Deutschland hat nun auch offiziell Stellung genommen. In einem Blog-Eintrag berichtet Wikimedia-Geschäftsführer Sebastian Moleski von organisatorischen Schwierigkeiten rund um die Verfügung: Der Verein zieht gerade von Frankfurt nach Berlin um, deswegen stand zeitweise kein Festnetztelefon zur Verfügung. Die Pressemitteilung ist in den Kommentaren dokumentiert.
Update 16.11.08: Heilmann entschuldigt sich
Laut einem Bericht auf Heise.de hat Heilmann auch noch Strafanzeigen gegen mehrere der Bearbeiter gestellt, die den betreffenden Wikipedia-Artikel editiert haben. Nach einer Nachricht, die sich nun auf der Webseite lutz-heilmann.info befindet, will Heilmann nun von weiteren Schritten gegen die Wikipedia absehen, er bedauert „außerordentlich“, dass die Domain zwischenzeitlich gesperrt war; das juristische Vorgehen beurteilt er im Nachhinein als „problematisch“. Die Sperre auf der Domain wikipedia.de ist derweil weiter online.
Update 17.11.08: Wikipedia.de funktioniert wieder
Die Domain verweist mittlerweile wieder auf die Suchmaschine.