Ein Kommentar von Simon Möller.
Es ist gut möglich, dass wir von der Entscheidung, die Facebook am vergangenen Donnerstag bekanntgegeben hat, später in den Geschichtsbüchern lesen werden. Wir erleben hier einen Umbruch in ganz verschiedenen Feldern: Zum einen einen ganz neuen Ansatz in der Regulierung von Social Networks. Zum anderen einen Prozess, der frappierende Ähnlichkeiten mit der Konstituierung von Staaten hat. Und zuletzt eine Idee, die neuen Wind in die Demokratie bringen könnte.
Die Principles, die Facebook verabschieden will, befassen sich nur zu einem kleinen Teil mit Datenschutz. Viel wichtiger sind andere Gebiete: Das „Eigentum“ der User an den Daten, die sie bei Facebook eingestellt haben. Die „Gleichheit“ aller angeschlossenen User. Die „Freiheit“, sich mit jedem anderen User zu verbinden, und die „Sicherheit“ vor unberechtigten Sperrungen. Schon in der Formulierung wird deutlich, worauf es hinausläuft: Hier entsteht eine Art Rechte-Charta des Web2.0. Wenn man so will: ein Grundrechtekatalog, ergänzt um abstrakte Programmleitsätze (wie z.B. Punkt 10 der Principles: „One World“).
Der Vertrag, den Facebook mit seinen Usern schließen will, ist formal ein Teil des Privatrechts. Und doch erinnert der Vorgang frappierend an das, was Jean-Jacques Rousseau als „Gesellschaftsvertrag“ beschrieb: Eine Verfassung.
Social Networks sind Staaten in vielen Punkten ähnlich
Es ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das sich hier konstituiert, aber vor allem ist es eine transnationale Gemeinschaft von Personen. Hier arbeitet, kommuniziert, lebt eine riesige Anzahl von Menschen miteinander. Dieses Zusammenleben muss nach Regeln verlaufen und diese Regeln müssen durchgesetzt werden. Im normalen Leben würden diese Aufgabe die Staaten übernehmen. Aber die Staaten haben aus praktischen oder politischen Gründen kaum regulierend in Social Networks eingegriffen. Dadurch entstand ein rechtsfreier Raum – nicht nur für die an Facebook angeschlossenen User, sondern auch für Facebook selbst. Das ändert allerdings nichts daran, dass Facebook als Ordnungsmacht gefordert ist.
Es erscheint nur logisch, dass eine Entität, die quasi hoheitliche Befugnisse ausübt, auch wie ein Hoheitsträger kontrolliert und legitimiert werden muss. Das geht nach unserem Rechtsverständnis nicht ohne Demokratie. Allerdings geht die demokratische Legitimation hier nicht den gewöhlichen Weg über die gewählte Volksvertretung der Nationalstaaten – sie verläuft in eigenen Bahnen, die unabhängig von den einzelnen Nationalstaaten existieren. Facebook bildet eine eigene Gemeinschaft, die sich nach eigenen Regeln konstituiert. Natürlich könnten die Nationalstaaten weiterhin Gesetze erlassen, an die Facebook sich auch halten müsste. Aber so lange die Staaten sich hier zurückhalten, kontrollieren die Nutzer das Geschehen.
Schwachstellen in der Facebook-Verfassung
Die Diskussion um die Facebook-Verfassung wird bisher von einer Frage beherrscht: Lässt sich das denn praktisch umsetzen? Viele Kommentatoren bezweifeln, dass die User das System annehmen werden. Andere weisen auf vermeintliche oder echte Schwachstellen in der Verfassung hin. Diese sind in vielen Fällen deckungsgleich mit Fragen, die sich auch im Staatsrecht stellen: Welche Entscheidungen muss Facebook denn überhaupt seinen Nutzern überantworten (Vorbehalt des Gesetzes)? Wie werden die Abstimmungen gegen Manipulationen abgesichert (Wahlrechtsgrundsätze)? Wie bildet sich die Facebook-Community eine Meinung über die Fragen, über die sie entscheiden soll („Staats“-freiheit der Prozesse der Meinungsbildung)? Wer kontrolliert eigentlich, ob Facebook sich an die Vorgaben der User hält (Gewaltenteilung)?
Aus der Sicht des Staatsrechts kommen hier – abgesehen von der frappierenden Ähnlichkeit der Facebook-Verfassung mit existierenden Regelwerken – noch ganz grundlegende Fragen auf. Können multinationale Organisationen die Staaten ersetzen? Wem schuldet der Bürger zu allererst Loyalität? Was passiert, wenn sich zwei Entitäten streiten, die beide demokratisch legitimiert sind, aber auf unterschiedliche Weise?
Keimzelle einer neuen demokratischen Idee
Oder andere Fragen mehr zur demokratietheoretischen Seite: Wenn sich die Methode von Facebook, solche Normen in Social Networks und Diskussionsgruppen diskutieren zu lassen, bewährt, kann das auch für andere Regulierungsformen ein Vorbild sein? Erleben wir hier die Anfänge einer neuen Form von partizipativer Demokratie?
Natürlich gibt es bis jetzt nur die Idee von Facebook, und sie muss sich erst noch bewähren. Aber die Entscheidung von Facebook zeigt, dass sich mit dem wachsenden Einfluss des Internets auch ganz grundlegende Regeln des menschlichen Zusammenlebens ändern. In dieser Entwicklung steht Facebook nicht alleine da. Auch die Wikipedia-Community ist global organisiert und hat sich dazu Regeln gegeben, die teils demokratisch, teils meritokratisch, teils anarchistisch sind (Eigenaussage der Wikipedia). Und die für die Internet-Governance wichtigste Institution, die ICANN, ist ein Mischkonstrukt, das für seine Struktur Anleihen im Privatrecht und im Völkerrecht genommen hat. Auch dort wurden Methoden der „Peer-Demokratie“, wie sie Facebook gerade erprobt, lange umgesetzt – im Jahr 2003 hat man sie dann jedoch abgeschafft.
Wir stehen in dieser Entwicklung erst ganz am Anfang.
Lesenswert: Ralf Bendrath bei Netzpolitik.org zum selben Thema.