Telemedicus hat bereits darüber berichtet: Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat sich im Fall Barbulescu gegen Rumänien (Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2017, Beschwerde Nr. 61496/08) mit der Überwachung privater Chatnachrichten eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber auseinandergesetzt. Das Urteil des EGMR legt wichtige Grundsätze für den Beschäftigtendatenschutz fest. Darüber hinaus berührt es auch die weitergehende Frage nach der Geltung von (europäischen) Grundrechten im Arbeitsverhältnis.
Der Beschwerdeführer war ein rumänischer Staatsbürger. Er war von 2004 bis 2007 in einem Privatunternehmen in Rumänien im Verkauf angestellt gewesen. Auf Betreiben seines Arbeitgebers legte er einen Yahoo-Messenger-Account an. Diesen sollte er nach dem Willen des Arbeitgebers nutzen, um Anfragen von Kunden zu beantworten.
In dem Unternehmen gab es Richtlinien, die die private Nutzung von Computern, Faxgeräten usw. untersagten. Diese Richtlinien enthielten keinen Hinweis darauf, dass der Arbeitgeber die Kommunikation von Mitarbeitern überwachen werde. Der Beschwerdeführer hatte schriftlich bestätigt, die Richtlinien zur Kenntnis genommen zu haben. Darüber hinaus wurde in dem Unternehmen 2007 ein Rundschreiben an die Mitarbeiter verschickt, in dem erneut darauf hingewiesen wurde, dass es Mitarbeitern verboten sei, innerhalb der Arbeitszeit das Internet zu nutzen, um persönliche Angelegenheiten zu regeln. Auch hiervon nahm der Beschwerdeführer Kenntnis.
Im Juli 2007 forderte der Arbeitgeber den Beschwerdeführer schriftlich auf, zu erklären, warum er den Yahoo-Messenger während der Arbeitszeit für private Zwecke nutze. Der Beschwerdeführer antwortet, er nutze den Messenger lediglich für dienstliche Belange. Daraufhin übersandte der Arbeitgeber ihm ein 45-seitiges Protokoll von Nachrichten, die der Beschwerdeführer mit seinem Bruder und seiner Verlobten ausgetauscht hatte. Die Nachrichten waren privater und teilweise intimer Natur.
Der Beschwerdeführer antwortete, aus seiner Sicht habe der Arbeitgeber durch die Aufzeichnung der Nachrichten eine Straftat begangen.
Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis kurze Zeit später.
Der Beschwerdeführer erhob Klage gegen seine Entlassung und machte Ansprüche auf Schadensersatz geltend. Die Klage wurde abgewiesen. Das Rechtsmittelgericht wies sein Rechtsmittel hiergegen zurück. Es zog dabei unter anderem die EU-Datenschutzrichtlinie 95/46/EC in Betracht.
Der Beschwerdeführer erstattete auch Strafanzeige; die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren jedoch ein.
Der Beschwerdeführer legte eine Beschwerde beim EGMR ein. Die zuständige Kammer entschied zunächst, dass keine Verletzung der Konvention vorliege. Die Kammer befand, die rumänischen Gerichte hätten in zutreffender Weise zwischen den Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers abgewogen. Es habe sich um einen Yahoo-Account für dienstliche Zwecke gehandelt; der Arbeitgeber habe die Nachrichten in dem Glauben aufgezeichnet, dass diese nur dienstlicher Natur seien.
Die Große Kammer des EGMR prüfte einen Verstoß gegen das Recht auf Respekt vor dem Privatleben und der Korrespondenz nach Artikel 8 EMRK. Dabei prüfte sie, der üblichen Herangehensweise des Gerichtshofs folgend, zunächst, ob der Fall in den Anwendungsbereich der Vorschrift fiel (a) und dann, ob ein rechtswidriger Eingriff vorlag (b).
a) Anwendbarkeit von Artikel 8 EMRK
Dass Artikel 8 auf den Sachverhalt anwendbar war, war aus Sicht des Gerichtshofs weitgehend unproblematisch: Private Chatnachrichten fielen in den Bereich des Privatlebens im Sinne von Artikel 8; nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs seien sie auch als von dieser Vorschrift geschützte Korrespondenz anzusehen. Daran ändere es auch nichts, dass die Botschaften am Arbeitsplatz über einen Dienstcomputer übertragen worden seien. Das Recht auf Privatleben erstrecke sich nämlich auch auf den Arbeitsplatz. Es sei in diesem Zusammenhangt auch unerheblich, dass der Arbeitgeber den privaten Gebrauch des Dienstcomputers und der Internetverbindung am Arbeitsplatz strikt verboten habe. Auch solche Vorschriften, so der EGMR, führten nicht dazu, dass das Recht des Arbeitnehmers auf Privatleben auf null reduziert werde.
b) Rechtswidriger Eingriff – Verletzung positiver Pflichten
Den Schwerpunkt der Argumentation des EGMR bildete dann die Frage, ob in das Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben rechtswidrig eingegriffen wurde. Hier wird es durchaus schwierig. Denn der Arbeitgeber, der die Chatnachrichten aufgezeichnet und den Beschwerdeführer entlassen hatte, war ein privates Unternehmen. Die EMRK bindet aber grundsätzlich nur Staaten und gilt im Verhältnis zwischen Staat und Bürger.
Allerdings begründet die Konvention nach ständiger Rechtsprechung des EGMR auch sogenannte „positive Pflichten“ („positive obligations“): Der Staat ist verpflichtet, die Rechte, die in der EGMR verankert sind, allen Personen in seiner Hoheitsgewalt zu gewährleisten. Dieser Pflicht wird er nicht schon dann gerecht, wenn er von rechtswidrigen Eingriffen in solche Rechte Abstand nimmt. Er muss vielmehr in einem bestimmten Umfang aktiv werden, um sicherzustellen, dass Personen in seiner Hoheitsgewalt tatsächlich in den Genuss ihrer Rechte nach der EMRK kommen.
Wie weit diese Pflichten gehen und worin sie im Einzelfall bestehen, ist eine Frage der Auslegung. Der Gerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, dass zu den Maßnahmen, die von Staaten gefordert sind, die Verabschiedung von Gesetzen gehören kann, die den effektiven Schutz von Grundrechten gewährleisten können (siehe beispielsweise X g. Niederlande, Urteil vom 26.03.1985, Beschwerde Nr. 8978/80)
Hier setzt die Große Kammer des EGMR an: Nach ihrer Auffassung war Rumänien dazu verpflichtet, durch entsprechende Gesetze dafür zu sorgen, dass der Schutz des Rechts auf Privatleben von Arbeitnehmern gewährleistet ist. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Staaten bei der Umsetzung der Konvention grundsätzlich ein bestimmter Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) zustehe. Es bleibt ihnen also in gewissem Umfang selbst überlassen, wie sie die Vorgaben der EMRK umsetzen und welche Prioritäten sie dabei setzen (beispielsweise, wenn es um die Kollision von Rechten nach der EMRK geht). Wie weit dieser Beurteilungsspielraum geht, hängt dabei von den Rechten ab, die in Rede stehen. Beispielsweise genießen Staaten einen weiten Beurteilungsspielrau in Fragen der Besteuerung und ihrer Auswirkung auf das Recht auf Eigentum nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (N.K.M. g. Ungarn, Urteil vom 14.05.2013, Beschwerde Nr. 6529/11) oder bezüglich ökonomischer oder sozialer Fragen (Stec und andere g. Vereinigtes Königreich, Urteil der Großen Kammer vom 12.04.2006); dagegen ist dieser Spielraum eng, wenn eng mit der Persönlichkeit verbundene Fragen oder Schlüsselrechte wie das Recht auf Leben in Rede stehen (Dubska und Krejzova g. Tschechische Republik, Urteil vom 15.11.2016, Beschwerde Nr. 28859/11.). Es sprich für einen weiten Beurteilungsspielraum, wenn hinsichtlich bestimmter Fragen kein Konsens unter den Vertragsstaaten der EMRK besteht (Van der Hejden g. Niederlande, Urteil der Großen Kammer vom 03.04.2012, Beschwerde Nr. 42857/05) Der Gerichtshof überwacht, ob Vertragsstaaten der EMRK die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums bei der Umsetzung der EMRK überschritten haben.
Nach Auffassung des EGMR hatte Rumänien einen großen Beurteilungsspielraum bei der Umsetzung der Vorgaben von Artikel 8 EMRK in nationales Recht. Dieser sei jedoch nicht unbegrenzt. Es obliege den nationalen Stellen, sicherzustellen, dass es angemessene und hinreichende Schutzmechanismen gebe, wenn ein Arbeitgeber die Chatnachrichten von Arbeitnehmern überwache. Wichtig seien dabei vor allem effektive prozessuale Garantien gegen Willkür und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Hierbei seien vor allem folgende Fragen zu beachten:
– Ob der Arbeitnehmer vor der Überwachung informiert worden sei, dass seine Kommunikation überwacht werden könnte
– Der Umfang der Überwachung und des Eindringens in die Privatsphäre (insbesondere, ob auch die Inhalte der Kommunikation aufgezeichnet werden)
– Ob der Arbeitgeber hinreichende Gründe hatte, die Nachrichten zu überwachen und von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen
– Ob es möglich gewesen wäre, ein Überwachungssystem
– Welche Konsequenzen das System der Nachrichtenüberwachung hat und welchen Gebrauch der Arbeitgeber davon mache
– Ob es hinreichende Schutzmechanismen gibt die gewährleisten, dass der Arbeitgeber den Inhalt von Nachrichten nicht zur Kenntnis nehmen könne, solange der Arbeitgeber ihn nicht von dieser Möglichkeit informiert habe.
Darüber hinaus müsste, so der Gerichtshof, ein Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, die Überwachung seiner Kommunikation gerichtlich überprüfen zu lassen, wobei das nationale Gericht jedenfalls der Sache nach die oben genannten Kriterien beachten müsse.
Der Gerichtshof befand, dass die rumänischen Gerichte zwar richtig erkannt hätten, dass sie abwägen müssten zwischen dem Interesse des Arbeitnehmers an der Wahrung seiner Privatsphäre und dem Interesse des Arbeitgebers an der Kontrolle der Einhaltung von Arbeitsvorschriften. Sie hätten aber die vorgenannten Kriterien nicht hinreichend gewürdigt. Daher stelle der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest.
Der EGMR hat recht detaillierte Kriterien dafür entwickelt, unter welchen Voraussetzungen die Überwachung der Kommunikation von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber möglich ist. Hervorzuheben ist dabei wohl besonders, dass Arbeitnehmer vorher informiert werden müssen, dass Arbeitgebern möglicherweise von den Inhalten ihrer Nachricht Kenntnis nehmen werden.
Die Vorgaben des EGMR richten sich an Staaten, die die EMRK unterzeichnet haben. Diese müssen innerhalb ihrer eigenen Rechtsordnung für die Umsetzung sorgen. Da sich jedoch auch deutsche Gerichte an den Urteilen des EGMR orientieren (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 14.10.2004, Az.: 2 BvR 1481/04, „Görgülü“), ist es für Arbeitgeber ratsam, sich an die Vorgaben aus Straßburg zu halten.
Dem EGMR wird häufig vorgeworfen, die Grenzen bloßer Rechtsanwendung zu überschreiten und sich zu weitgehend in letztlich politische Entscheidungen der Mitgliedsstaaten des Europarates einzumischen (siehe beispielsweise Sumption, Judicial and political decision making – the uncertain boundary). Diese Kritik ist im vorliegenden Fall gerechtfertigt.
Der Gerichtshof stützt sich in seinem Urteil auf zwei Konzepte, die beide weit und wenig konturiert sind: Die positiven Pflichten und den Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“).
Die positiven Pflichten, die die EMRK postuliert, sind zum Teil klar umrissen sein (wie beispielsweise die Durchführung effektiver Ermittlungen bei mutmaßlicher Folter; sie dazu beispielsweise Matevosyan g. Armenien, Urteil vom 14.09.2017, Beschwerde Nr. 52316/09(); sie erstrecken sich nach Auffassung des Gerichtshofs aber auch auf gesetzgeberische Maßnahmen – auch im Bezug auf Gesetze, die die Beziehungen unter Privatleuten regeln (Södermann g. Schweden, Urteil der Großen Kammer vom 12.11.2013, Beschwerde Nr. 5786/08). In diesem Bereich ist der konkrete Umfang der Pflichten – vor allem, welche Gesetze denn genau nach der Konvention erforderlich sein sollen – unklar. Man mag lange darüber streiten, wo die Schwelle des Mindestschutzes liegt, den die EMRK garantiert, und welche gesetzgeberischen Maßnahmen erforderlich sind, um diesen Schutz zu gewährleisten. Grundsätzlich gesteht der Gerichtshof den Staaten daher einen Beurteilungsspielraum bei der Umsetzung der positiven Pflichten zu. Abhängig von den Rechten, die in Rede stehen, kann der Beurteilungsspielraum weit oder eng sein.
Der Beurteilungsspielraum geht stets einher mit der Prüfung durch den Gerichtshof, ob Staaten seine Grenzen überschritten haben. Dabei bleibt der Gerichtshof aber Kriterien schuldig, wie die Spielräume jeweils bemessen sind und wann eine Grenzüberschreitung vorliegt. Der Beurteilungsspielraum bleibt damit letztlich eine Leerformel.
Tatsächlich räumt der Gerichtshof dem rumänischen Staat im vorliegenden Fall (nominell) einen weiten Beurteilungsspielraum ein. Ernst macht er damit jedoch nicht. Der EGMR konstatiert, dass es im rumänischen Recht mehrere Vorschriften gibt, die die Privatsphäre schützen. Unter anderem ist das Recht auf Privatleben und auf Vertraulichkeit der Korrespondenz in der rumänischen Verfassung verankert (Art. 26, 28); das Strafrecht stellt den Bruch der Vertraulichkeit der Korrespondenz unter Strafe (Art. 195 StGB) und das Zivilrecht sieht unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatz vor. Den dadurch bewirkten Schutz sieht er jedoch nicht als hinreichend an.
Der EGMR weist auch darauf hin, dass es in 34 der 47 Mitgliedsstaaten keine Vorschrift gebe, die die Überwachung des Chatverkehrs von Arbeitnehmern durch den Arbeitgeber generell untersage oder daran knüpfe, dass der Arbeitnehmer zuvor gewarnt werde. Dennoch ist eine solche Vorschrift nach Auffassung des Gerichtshofs trotz des weiten Beurteilungsspielraums geboten.
Der EGMR bescheinigt den rumänischen Gerichten auch, eine Abwägung zwischen dem Interesse des Arbeitnehmers am Schutz seiner Privatsphäre und dem Interesse des Arbeitgebers an einer effektiven Kontrolle von internen Regeln vorgenommen zu haben, wie es die Konvention erfordere. Auch hier hält er aber diese Abwägung trotz des weiten Beurteilungsspielraums nicht für hinreichend. Vielmehr leitet er aus Art. 8 EMRK die genannten sechs Kriterien her, die die rumänischen Gerichte hätten beachten müssen.
Die Begründung des Gerichtshofs dafür fällt dünn aus. Er verweist auf die rapiden Entwicklungen im Bereich der Telekommunikation und auf das gegenseitige Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, das im Arbeitsverhältnis erforderlich sei. Beides ist sicherlich richtig; es fällt aber schwer, daraus konkrete rechtliche Anforderungen für die Überwachung von Chatnachrichten abzuleiten (der Sachverhalt bestätigt im Übrigen, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zu recht misstraut hat).
Die Kammer des EGMR, die zunächst mit dem Fall befasst war, hat eine Verletzung von Artikel 8 EMRK mit einer Mehrheit von sieben zu einer Richterstimme verneint. Die Große Kammer stelle mit einer Mehrheit von elf zu sechs eine Verletzung der Konvention fest. Von den insgesamt mit dem Fall befassten Richtern waren also zwölf der Meinung, Rumänien habe das Recht des Beschwerdeführers auf Respekt vor seinem Privatleben verletzt; dagegen waren 13 Richter der Auffassung, eine solche Verletzung liege nicht vor. Die Mehrheit in der Großen Kammer determiniert deren Entscheidung und damit das Urteil des Gerichtshofs; wenn es aber selbst unter den Richtern des Gerichtshofs derartig umstritten ist, ob die EMRK eine bestimmte Regelung postuliert und die Mehrheit der europäischen Rechtsordnungen diese Regelung nicht kennt, dann sollte ein weiter Beurteilungsspielraum zu dem Schluss führen, dass das Fehlen dieser Regelung nicht gegen die EMRK verstößt. Das Urteil des EGMR im Falle Barbulescu gegen Rumänien ist daher wenig überzeugend.
Zur Entscheidung des EGMR.
Rechtsanwalt Holger Hembach berät zur EMRK, Grund- und Menschenrechten.
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