Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat kürzlich über den Fall Mosley entschieden. Das Urteil betrifft zum einen die Frage, ob Art. 8 EMRK es zwingend fordert, die Betroffenen von Berichterstattung vorher zu informieren, um ihnen Rechtsschutz zu ermöglichen. Zum anderen zeigt sie auch lehrreich und sauber die Dogmatik zu den Artikeln 8 und 10 EMRK auf.
Mosley ist eine schillernde Gestalt: Max Rufus Mosley ist der Sohn von Oswald Mosley, dem Gründer der „British Union of Fascists”, außerdem Rechtsanwalt und Sportfunktionär. In der letztgenannten in Funktion ist er Vorsitzender des Welt-Automobilsportverbands FIA. Es entwickelte sich nun folgender Fall: Die britische Boulevardzeitung „News of the World” bezahlte offenbar eine Prostituierte dafür, dass sie bei einem Treffen mit Mosley eine Kamera mitlaufen ließ. Kurz darauf titelte die News of the World: „F1 boss has sick Nazi orgy with 5 hookers”. Mosley suchte sich sofort Rechtsschutz. Im Verlauf des Verfahrens stellte sich dann schnell heraus, dass die Aufnahmen nicht nur völlig rechtswidrig entstanden waren und verbreitet wurden – es ließ sich auch ein Zusammenhang zu Nazis nicht wirklich herstellen (außer, dass während des Treffens teilweise deutsch gesprochen wurde und einige der Frauen in Sträflingskleidung auftraten.)
Die Prozesse, die Mosley weltweit gegen die „News of the World” und andere Medienunternehmen führte, gewann er weitgehend und führten zu hohen Schadensersatz-Zahlungen. Mosley zog aber trotzdem vor den EGMR.
Das Problem: Kein Schutz gegen überraschende Berichterstattung
Das Argument von Mosley war folgendes: Indem „News of the World” das kompromittierende Video unangekündigt veröffentlichte, nahm die Zeitung Mosley jede Abwehrmöglichkeit. Und dadurch blieb Mosley im Prinzip bis zum Schluss (rechts-) schutzlos – denn der eigentliche Schaden war nicht wieder gut zu machen. Die Intimsphäre von Mosley war gestört, sein öffentlicher Ruf vernichtet, seine Karriere endete kurz darauf (wenn auch offiziell aus anderen Gründen). Laut Mosley hatten die Veröffentlichungen auch Auswirkungen auf seine Familie, was nicht schwer zu glauben ist.
Mosley meinte also, dass es ein Recht der „Opfer” von Berichterstattung geben müsste, sich gegen diese Art von Berichterstattung wehren zu können – und zwar, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die britische Rechtsordnung müsse dies gesetzlich vorsehen, alles andere stelle eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 8 EMRK (Anspruch auf Schutz der Privatsphäre) dar. Der EMRK fasst den Antrag von Mosley wie folgt zusammen:
The applicant complained that the United Kingdom had violated its positive obligations under Article 8 of the Convention, taken alone and taken together with Article 13, by failing to impose a legal duty on the News of the World to notify him in advance in order to allow him the opportunity to seek an interim injunction and thus prevent publication of material which violated his right to respect for his private life.
(Hervorhebung hier und im Folgenden nicht im Original)
Mosley ging es also um eine Änderung des Presserechts: Um ein „pre-notification requirement”, d.h. eine verbindliche Pflicht von Presseorganen, mit den Personen, über die sie berichten, vorher Kontakt aufzunehmen um diesen die Möglichkeit zu eröffnen, schon im Vorhinein Rechtsschutz zu suchen.
Die Lösung des EGMR
Der EGMR prüft den Antrag von Mosley am Maßstab des Art. 8 EMRK, den er mit Art. 10 EMRK abwägt. Art. 8 EMRK schützt die Privatsphäre; der EGMR verleiht Art. 8 EMRK in der Praxis eine ganz ähnliche Bedeutung wie dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wie es im deutschen Recht bekannt ist. Der Gerichtshof stellt schnell und ohne weiteres Problematisieren fest, dass das, was Mosley in Großbritannien widerfuhr, eine Verletzung von Art. 8 EMRK war – aber dafür hatte er ja schon Schadensersatz erhalten. Die Frage, die offen blieb (und wegen der Mosley vor Gericht gezogen war), war ungleich schwerer zu beantworten.
Schutzpflichten und Untermaßverbot
Der Gerichtshof beschäftigt sich eingangs mit der dogmatischen Herleitung des Begehrens von Mosley. Dieser verlangt hier ja keinen Schutz vor dem Staat – er verlangt, von dem Staat vor einem Dritten geschützt zu werden. Art. 8 EMRK kam hier also nicht in Form eines Abwehrrechts zum Einsatz, sondern Mosley verlangte eine Leistung, nämlich Schutz. Dass dies möglich ist, hat der Gerichtshof schon länger anerkannt:
It is clear that the words “the right to respect for … private … life” which appear in Article 8 require not only that the State refrain from interfering with private life but also entail certain positive obligations on the State to ensure effective enjoyment of this right by those within its jurisdiction (…). Such an obligation may require the adoption of positive measures designed to secure effective respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves (see Von Hannover v. Germany, …).
Der Umfang des margin of appreciation
Ähnlich wie auch die deutschen Gerichte erkennt auch der EGMR einen Entscheidungsspielraum der Politik an. Das Bundesverfassungsgericht spricht insofern von einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Bei Schutzpflichten spricht es auch vom Untermaßverbot: Der Staat entscheidet selbst, wie viel Schutz er den Grundrechten seiner Bürger gegen Beeinträchtigungen Dritter gewähren will. Ab einer gewissen Grenze – dem Untermaß – ist er aber grundrechtlich gebunden (BVerfGE 88, 203 [254] – Schwangerschaftsabbruch II).
Der EGMR verwendet eine andere Begrifflichkeit, die aber ähnliche Bedeutung hat. Er spricht vom „margin of appreciation”. Diese missverständliche Übersetzung des französischen „marge d’appreciation” bezeichnet, dass die Mitgliedsstaaten einen eigenen Einschätzungsspielraum darüber haben, wie sie die EMRK-Grundrechte schützen wollen. Der EGMR reflektiert auf diese Weise die große Vielfalt an Kulturen, Gesellschaften und Rechtssystemen in Europa. Der margin of appreciation kann unterschiedlich weit ausgeprägt sein – jeweils abhängig davon, wie stark ein bestimmter Grundrechtskonflikt durch kulturelle Besonderheiten geprägt ist, wie stark in ein Grundrecht eingegriffen wird oder ob es so etwas wie einen allgemeinen Konsens unter den Mitgliedsstaaten zu dem speziellen Problem gibt. Der EGMR prüft also nicht, ob die Entscheidung des jeweils betroffenen Mitgliedsstaats richtig ist, sondern nur, ob dieser sich innerhalb der Grenzen seines Einschätzungsspielraums hielt, und ob seine Erwägungen folgerichtig und schlüssig sind.
Der EGMR bestimmt also zunächst den Umfang des margin of appreciation. Bei Art. 8 EMRK bringt er folgende Erwägungen zur Anwendung:
The Court recalls, first, that the applicant’s claim relates to the positive obligation under Article 8 and that the State in principle enjoys a wide margin of appreciation (see paragraph 108 above). It is therefore relevant that the respondent State has chosen to put in place a system for balancing the competing rights and interests which excludes a pre-notification requirement. (…)
Second, the Court notes that the applicant’s case concerned the publication of intimate details of his sexual activities, which would normally result in a narrowing of the margin of appreciation (see paragraph 109 above). However, the highly personal nature of the information disclosed in the applicant’s case can have no significant bearing on the margin of appreciation afforded to the State in this area given that, as noted above (…), any pre-notification requirement would have an impact beyond the circumstances of the applicant’s own case.
Third, the Court highlights the diversity of practice among member States as to how to balance the competing interests of respect for private life and freedom of expression (see paragraphs 62-63 above). Indeed the applicant has not cited a single jurisdiction in which a pre-notification requirement as such is imposed.
Der EGMR lässt den margin of appreciation hier quasi wachsen, schrumpfen und wieder wachsen:
1. Der Einschätzungsspielraum der Mitgliedstaaten wäre grundsätzlich eher groß, da es hier um eine positive Schutzpflicht geht. Außerdem (diese Stelle ist hier nicht zitiert) ist der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EMRK unklar formuliert, was darauf hindeutet, dass der Begriff in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung haben kann.
2. Allerdings könnte er hier schrumpfen, weil es für den Beschwerdeführer um intime Details und höchstpersönliche Fragen geht. Da Mosley vorliegend aber nicht prinzipiell eigene Rechte verteidigt (sein Fall ist ja abgeschlossen), sondern eine generelle pre-notification requirement fordert, ist dieser Gedanke abzulehnen. Es bleibt beim weiten Einschätzungsspielraum.
3. Der margin of appreciation könnte auch schrumpfen, wenn es so etwas wie einen europaweiten Konsens über die Frage der pre-notification requirements gäbe. So etwas gibt es aber nicht. Der EGMR kommt zu dem Zwischenergebnis:
The Court therefore concludes that the respondent State’s margin of appreciation in the present case is a wide one.
Abwägung mit Art. 10 EMRK
Nachdem er den eigenen Prüfungsmaßstab bestimmt hat, geht der EGMR zur Abwägung mit Art. 10 EMRK über. Diese „Kommunikationsfreiheit” schützt in ihren verschiedenen Ausprägungen fast sämtliche Aspekte der Kommunikation. Hierzu zählt, ohne speziell erwähnt zu werden, auch die Presse.
Der EGMR hebt die besondere Wichtigkeit der Presse für die Demokratie und die Grundrechte hervor:
The Court emphasises the pre-eminent role of the press in informing the public and imparting information and ideas on matters of public interest in a State governed by the rule of law (…). Not only does the press have the task of imparting such information and ideas but the public also has a right to receive them. Were it otherwise, the press would be unable to play its vital role of “public watchdog” (…).
Der Begriff „public watchdog” ist das EGMR-Äquivalent zur deutschen Formulierung „schlechthin konstituierend” – der Gerichtshof wiederholt diese Bezeichnung phrasenartig, um auf die Rolle der Presse als „vierte Gewalt” im Staat hinzuweisen. Der EGMR weist an dieser Stelle aber auch darauf hin, dass Boulevardjournalismus nach seiner Konzeption nicht den selben Schutzanspruch genießt wie seriöse Pressearbeit – ständige Rechtsprechung seit der Caroline-Entscheidung.
Sinn und Unsinn eines pre-notification requirement
In den weiteren Ausführungen löst er den Fall dann quasi über praktische Überlegungen.
Zunächst spekuliert der Gerichtshof darüber, wie ein solches pre-notification requirement ausgestaltet sein müsste. An dieser Stelle bringt er die chilling effects ins Spiel:
First, it is generally accepted that any pre-notification obligation would require some form of “public interest” exception (see paragraphs 83, 89, 94, 97 and 102 above). Thus a newspaper could opt not to notify a subject if it believed that it could subsequently defend its decision on the basis of the public interest. The Court considers that in order to prevent a serious chilling effect on freedom of expression, a reasonable belief that there was a “public interest” at stake would have to be sufficient to justify non-notification, even if it were subsequently held that no such “public interest” arose. The parties’ submissions appeared to differ on whether “public interest” should be limited to a specific public interest in not notifying (for example, where there was a risk of destruction of evidence) or extend to a more general public interest in publication of the material. The Court would observe that a narrowly defined public interest exception would increase the chilling effect of any pre-notification duty.
Der Gerichtshof sagt also, dass ein pre-notification requirement aus Verhältnismäßigkeitsgründen eine Ausnahmeklausel haben müsste. Denn es würde zu einem starken Einschüchterungseffekt führen, wenn Journalisten vor jeder Form von kritischer Berichterstattung zunächst ein formalisiertes Verfahren durchführen müssten, das noch dazu die Gefahr eines Rechtsstreits mit sich bringt. Dass dies dazu führen würde, dass bestimmte, für die Demokratie wichtige Publikationen nicht erscheinen würden, ist offensichtlich.
Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass es bereits jetzt in Großbritannien die gute journalistische Praxis ist, den Betroffenen einer Berichterstattung vorher anzuhören, insbesondere um ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wer das nicht tut, führt üblicherweise nichts Gutes im Schilde. Genau das hatte der Herausgeber der „News of the World” auch zugegeben: Er hatte Mosley unter anderem deshalb im Unklaren gelassen, weil er gerichtliche Schritte befürchtete.
Der Gerichtshof meint nun: Vor diesem Hintergrund wäre auch das pre-notification requirement unsinnig. Denn wer die journalistischen Standesregeln ignoriert, um eine Berichterstattung durchzubekommen, der ignoriert auch ein prior notification requirement.
In the applicant’s own case, it is not unlikely that even had a legally binding pre-notification requirement been in place at the relevant time, the News of the World would have chosen not to notify in any event, relying at that time on a public interest exception to justify publication.
(…) More importantly, any pre-notification requirement would only be as strong as the sanctions imposed for failing to observe it. A regulatory or civil fine, unless set at a punitively high level, would be unlikely to deter newspapers from publishing private material without pre-notification. In the applicant’s case, there is no doubt that one of the main reasons, if not the only reason, for failing to seek his comments was to avoid the possibility of an injunction being sought and granted (…). Thus the News of the World chose to run the risk that the applicant would commence civil proceedings after publication and that it might, as a result of those proceedings, be required to pay damages. In any future case to which a pre-notification requirement applied, the newspaper in question could choose to run the same risk and decline to notify, preferring instead to incur an ex post facto fine.
Although punitive fines or criminal sanctions could be effective in encouraging compliance with any pre-notification requirement, the Court considers that these would run the risk of being incompatible with the requirements of Article 10 of the Convention. It reiterates in this regard the need to take particular care when examining restraints which might operate as a form of censorship prior to publication. It is satisfied that the threat of criminal sanctions or punitive fines would create a chilling effect which would be felt in the spheres of political reporting and investigative journalism, both of which attract a high level of protection under the Convention.
Der Lösung ist insgesamt zuzustimmen. Es ist erstaunlich, dass der Gerichtshof den Antrag von Mosley überhaupt in dieser Breite erörtert – vielleicht ist das nur vor dem Hintergrund verständlich, dass der Fall einer Rechtsordnung entstammt, die die Pressefreiheit generell weniger schützt, wie die aktuellen Fälle von „super injunctions” in England zeigen.
Ein pre-notification requirement wäre nicht nur gesetzgebungstechnisch kaum in Worte zu fassen gewesen, es wäre auch in keiner Weise mit der Pressefreiheit vereinbar gewesen. Noch dazu wäre es schon der klassische Fall einer ungeeigneten, unverhältnismäßigen Maßnahme: Diejenigen, die sich illegal verhalten wollen, bremst quasi gar nicht. Dafür beschränkt sie aber all diejenigen, die sich an das Gesetz halten und Persönlichkeitsrechte achten wollen.
Der Fall Mosley weist insofern auf einen ganz grundsätzlichen Aspekt hin, den auch Bewohner von westlichen, in vieler Hinsicht extrem effektiv arbeitenden Staaten nicht vergessen sollten: Auch hier kann der Staat nicht jedes Unglück verhindern. Absolute Sicherheit gibt es nicht. Wenn der eine dem anderen Böses will, kann der Staat sein bestes tun, um das zu verhindern. Aber er kann und darf dabei nicht zum alles wissenden, alles kontrollierenden Polizeistaat werden.