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Die neuen EU-Grundrechte

Seit der Vertrag von Lissabon gilt, ist auch die EU-Grundrechtscharta verbindlich geworden. Das hat ihre Bedeutung sprunghaft gesteigert: Zuvor handelte es sich nur um unverbindliches „soft law” – jetzt steht die Charta auf dem Rang des Primärrechts. Das heißt, sie gehört zu den obersten rechtlichen Bestimmungen der Europäischen Union und steht auf einer Stufe mit dem EUV und dem AEUV.

Die Rechtsprechung des EuGH, die über Jahrzehnte von einer strikten, teils auch kompromisslosen Umsetzung der EU-Grundfreiheiten geprägt war, wird dadurch vermutlich eine neue Tendenz bekommen. Grund genug, sich diese Entwicklung aus Perspektive des Medienrechts näher anzuschauen.
Der deutsche Bürger kann sich mittlerweile auf einen ganze Dschungel an Grundrechten und Grundrechtskatalogen berufen. Größere praktische Bedeutung hatten davon aber bisher nur das GG und die EMRK. Grund: Diese beiden Normwerke sind schneidig formuliert, ihre Grundrechte sind ohne weiteres justiziabel, und hinter den Bestimmungen stehen gut ausgestattete, selbstbewusste Gerichte.

Die Jurisdiktion dieser Gerichte reicht freilich nur so weit, als die Grundrechtseingriffe unmittelbar der Bundesrepublik Deutschland, bzw. den Mitgliedsstaaten der EMRK zurechenbar sind. Wenn die Mitgliedstaaten in Umsetzung von EU-Recht tätig werden, beschränken sowohl das BVerfG als auch der EGMR den Rechtsschutz weitgehend und verweisen auf den EuGH (das BVerfG nach seiner sog. Solange-Rechtsprechung; der EGMR folgt einem ähnlichen Ansatz, vgl. Janik, ZaöRV 2010, 127). Der EuGH behandelte die Grundrechte aber eher stiefmütterlich – kein Wunder, bei der alten, äußerst schwammig formulierten Formulierung in Art. 6 EUV a.F.

Einführung von Menschen- und Bürgerrechten auf Ebene der EU

Es fehlte also zunächst ein echter Grundrechtsschutz auf Ebene der Europäischen Union. Dieses Defizit korrigierte der Vertrag von Lissabon. In Art. 6 EUV n.F. steht nun:

Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.

Damit gelten nun die EU-Grundrechte voll im Rang des Primärrechts: Sie stehen auf einer Stufe mit den Grundfreiheiten, mit den Wettbewerbsbestimmungen und allen anderen Vorschriften der Verträge. Tritt ein EU-Grundrecht in Konflikt mit einer anderen Bestimmung, z.B. der Dienstleistungsfreiheit, gebührt keiner der beiden Vorschriften der Vorrang – es ist dann im Wege der praktischen Konkordanz eine Lösung zu finden, die beiden Rechtsgütern gerecht wird.

Die wachsende Bedeutung der Grundrechtecharta wird nur langsam deutlich. Gerade vor wenigen Wochen erging die wohl erste wichtige Entscheidung des EuGH, in der eine Norm der Grundrechtecharta zentral zur Anwendung kam: Der Gerichtshof erklärte Art. 5 Abs. 2 der Gleichbehandlungsrichtline für unvereinbar mit Art. 21, 23 GrCh. Damit wurden geschlechtsbezogene Ungleichbehandlungen in Versicherungsverträgen rechtswidrig (EuGH v. 1. 3. 2011, Rs. C-236/09).

Auch im medienrechtsrelevanten Kontext tauchen die Unionsgrundrechte nun öfter auf. So erörterte der EuGH in zwei Urteilen vom 9. 11. 2010 (Rs. C-92, 93/09) und 05.05.2011 (Rs. C-543/09) intensiv das Grundrecht auf Datenschutz (Art. 8 GrCh). Die Grundrechtecharta kommt dabei viel prominenter zum Einsatz als in älteren Entscheidungen (Kilian NJW 2011, 1325 [1326]).


Die Richter am EuGH (Bild: Europäischer Gerichtshof)

Noch spannender dürfte es werden, wenn andere Verfahren abgeschlossen werden, bei denen die Grundrechte im Zentrum der Diskussion stehen: In der Rechtssache C-70/10 geht es um die Vereinbarkeit von Netzsperren mit EU-Grundrechten. Der Generalanwalt beim EuGH hält in diesem Verfahren die konkrete Umsetzung von Netzsperren in Belgien für unvereinbar mit diversen Unionsgrundrechten. Ein irisches Vorabentscheidungsverfahren zur Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit der Grundrechtscharta ist beim EuGH trotz anderslautender Gerüchte nicht anhängig. Nichtsdestotrotz: Die Vereinbarkeit dieser Richtlinie mit der Charta wird stark diskutiert – vielleicht kommt es noch auf anderem Weg zu einer Entscheidung des Gerichtshofs.

Verhältnis der Grundrechtecharta zur EMRK

Es gibt noch einen Grund, davon auszugehen, dass der EuGH zukünftig den Grundrechten mehr Beachtung schenken wird: Die EU ist nun – vorerst noch indirekt, bald auch direkt – an die EMRK gebunden.

Bereits jetzt ist die EMRK in der Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen (Art. 6 Abs. 3 EUV). Im Rahmen der Auslegung der EU-Grundrechtscharta markiert die EMRK zudem einen Mindeststandard im Schutzniveau, der nicht unterschritten werden darf (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh).

Wichtiger ist aber: Die EU soll der EMRK beitreten (Art. 6 Abs. 2 EUV). Dieser Beitritt ist aktuell noch nicht vollzogen. Sobald die EU aber beigetreten ist, vollzieht sich ein weiterer Quantensprung: Die Union ist dann mit voller Rechtskraft an die EMRK gebunden, genau so wie aktuell schon die Bundesrepublik Deutschland. Europäische Rechtsakte sind dann voll am Maßstab der EMRK überprüfbar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann – und wird – die EU dann wegen Verstößen gegen die Menschenrechte verurteilen. Spätestens dann wird der EuGH einen substanziellen Grundrechtsschutz in seine Rechtsprechung zu inkorporieren müssen. Andernfalls würde ihn der EGMR vor der Weltgemeinschaft bloßstellen, indem er regelmäßig seine Urteile für grundrechtswidrig erklärt.

Medienrelevante Grundrechte in der Grundrechtscharta

Die EMRK enthält für den Medienbereich im Wesentlichen nur die eher unbestimmte Programmvorschrift Art. 10 EMRK. Die jüngere EU-Grundrechtscharta ist in diesem Bereich viel ausdifferenzierter. In der Charta sind unter anderem geregelt:

Artikel 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens

Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

Artikel 8 – Schutz personenbezogener Daten

(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.

(2) Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Jede Person hat das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.

(3) Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von einer unabhängigen Stelle überwacht.

Artikel 11 – Freiheit der Meinungsäußerung, Informationsfreiheit, Freiheit und Pluralität der Medien

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.

(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.

Artikel 13 – Freiheit der Kunst und der Wissenschaft

Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.

Artikel 16 – Unternehmerische Freiheit

Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.

Artikel 17 – Eigentumsrecht, Geistiges Eigentum

(1) Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.

(2) Geistiges Eigentum wird geschützt.

Artikel 22 – Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen

Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

Artikel 36 – Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse

Die Union anerkennt und achtet den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern.

Artikel 38 – Verbraucherschutz

Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.

Es handelt sich bei den erstgenannten Vorschriften um Grundrechte; die letzten drei Bestimmungen (Art. 22, 36 und 38) sind Grundsätze. Grundsätze gelten zwar unmittelbar und direkt, begründen aber ähnlich wie Staatszielbestimmungen keine subjektiven Rechte (Art. 51 Abs. 1 S. 1, Art. 52 Abs. 5 CrCh).

Die Grundrechte (nicht die Grundsätze) sind auch voll justiziabel. Ein Verfahren, das der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbar wäre, existiert im Europarecht allerdings nicht. Es bleiben im wesentlichen nur die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV und das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Diese stellen jedoch deutlich höhere Anforderungen als das Grundgesetz. Der Bürger hat also vorerst keine einfache Möglichkeit, Verletzungen seiner Grundrechte direkt zu rügen. Allerdings sind auch die nationalen Gerichte an die EU-Grundrechte gebunden. Auch sie dürfen unmittelbar Rechtsschutz gewähren. Lediglich für den Fall, dass sie EU-Sekundärrecht wegen Verstoßes gegen die GrCh verwerfen wollen, müssen sie die Frage dem EuGH vorlegen.

Zur Anwendung der Grundrechtscharta

Die Charta enthält (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) keine speziellen Schrankenbestimmungen. Vielmehr stehen die EU-Grundrechte unter einem allgemeinen Schrankenvorbehalt. In Art. 52 Abs. 1 GrCh ist geregelt:

Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Aus dieser Vorschrift lassen sich sowohl die Schranken als auch die Schranken-Schranken entnehmen.

Für die Einschränkbarkeit gilt: Grundsätzlich ist jedes Grundrecht einschränkbar. Eine vorbehaltlose Gewährleistung wird lediglich bei wenigen besonders formulierten Grundrechten diskutiert (z.B. Art. 1 GrCh, der Menschenwürde). Die Schranken ergeben sich im Normalfall als allgemeiner Gesetzesvorbehalt aus Art. 52 Abs. 1 GrCh. Im Ausnahmefalle der Kongruenz (ein EU-Grundrecht ist auch an anderer Stelle in den Verträgen geregelt) greift gem. Art. 52 Abs. 2 GrCh der Vorrang der Verträge: Es sind alleine die Schrankenregelungen dort einschlägig. Das betrifft im Bereich der Mediengrundrechte nur den Datenschutz, der auch in Art. 16 AEUV geregelt ist.

Für die Schranken-Schranken gilt: Es greifen nach Satz 2 zumindest das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Verbot von Eingriffen in den Kernbereich der Grundrechte. In neueren Entscheidungen zeigen sich auch Andeutungen zum Bestimmtheitsgebot oder zur Wesentlichkeitstheorie.

Bisher noch umstritten ist, ob auch die Schranken-Schranken der EMRK Anwendung finden sollen. Die EMRK folgt nämlich anders als die Grundrechtscharta nicht dem Prinzip des allgemeinen Gesetzesvorbehalts, sondern kennt spezielle, qualifizierte Gesetzesvorbehalte. Wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh markiert sie aber einen Mindeststandard im Schutzniveau, der durch die GrCh nicht unterschritten werden darf.

Das Problem, welche Schranken anwendbar sein sollen, stellt sich insbesondere, wenn ein Kommunikationsgrundrecht mit Art. 10 EMRK zusammenfällt. Dieser umfasst als „Meinungsfreiheit” die meisten Mediengrundrechte der GrCh.

Art. 10 EMRK enthält in Absatz 2 spezielle Vorgaben zur Einschränkbarkeit der „Meinungsfreiheit”:

Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.

Es handelt sich um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt: Eingriffe sind nur zum Schutz ganz bestimmter Zwecke erlaubt; des weiteren sind Eingriffe nur zulässig, wenn sie „gesetzlich vorgesehen” und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” sind. Der EGMR übersetzt das Merkmal „gesetzlich vorgesehen” etwa mit „vorhersehbar”: Das Gesetz muss also hinreichend bestimmt und aussagekräftig sein. „In einer demokratischen Gesellschaft notwendig” ist eine Grundrechtsbeeinträchtigung nur, wenn sie eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung bestehen kann.

Diese Schranken-Schranken reichen offensichtlich weiter als der allgemeine Vorbehalt des Art. 52 GrCh. Sind sie nun auch auf die Kommunikationsgrundrechte GrCh anwendbar? Müssen Eingriffe in die Medienfreiheiten nicht nur den Anforderungen der Grundrechtscharta genügen, sondern auch der EMRK? Das ist aktuell noch umstritten.

Dem Gesetz nach gilt, dass das Schutzniveau der Grundrechtscharta nicht hinter das der EMRK zurückfallen darf (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GrCh). Es wird in der Literatur aber vertreten, dass diese Bestimmung nur für die Schutzbereiche der Grundrechte gelten soll, nicht für die Regelungen zur Rechtfertigung; die qualifizierten Schranken der EMRK seien nicht anwendbar. Dies mag dogmatisch vertretbar sein – in der Praxis wird es sich spätestens mit dem Beitritt der EU zur EMRK ändern. Denn der EGMR, der gegenüber der EU dann eine Funktion ähnlich der eines Verfassungsgerichts einnehmen wird, wird sich um die Regeln der Grundrechtscharta nicht kümmern. Er wird einfach die EMRK anwenden – und damit auch deren Schranken-Schranken. Der EuGH wird also schon aus faktischen Gründen auch Schrankenregeln anwenden müssen, die sich nicht in der GrCh, aber in der EMRK finden. Denn andernfalls würde der EMRK seine Urteile für rechtswidrig erklären.

Prüfungsschema

Abgesehen von den beschriebenen Besonderheiten ist die Charta den Grundrechten im GG sehr ähnlich. Die Prüfung folgt der selben Dogmatik wie auch im deutschen Verfassungsrecht. Man prüft nach folgendem Schema:

1. Schutzbereich
a) Personell
b) Sachlich

2. Eingriff

3. Rechtfertigung
a) Einschränkbarkeit: Art. 52 Abs. 1 GrCh
b) Schranken-Schranken

Zu beachten ist im Rahmen des Schutzbereichs bzw. des Eingriffs, dass die Grundrechtscharta nicht gegen sämtliche hoheitlichen Maßnahmen schützt.

Personeller Geltungsbereich der Grundrechtecharta

Die Charta berechtigt teilweise Menschen, teilweise auch juristische Personen. Das Regelwerk trennt ebenfalls zwischen EU-Bürgerrechten, die nur Personen mit EU-Bürgerschaft zusteht, und echten Menschenrechten. Die Menschenrechte sind deutlich in der Überzahl.

Für einigen Konfliktstoff sorgen wird sicherlich noch die Bestimmung, wer aus der Grundrechtscharta eigentlich verpflichtet wird. Es gilt gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh:

Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.

Das heißt, nicht nur die EU selbst muss sich nun an die Charta halten. Auch die Mitgliedstaaten sind gebunden – wenn sie EU-Recht umsetzen. Dies betrifft mittlerweile wohl den überwiegenden Teil des Bundesrechts. Auch die klassische Verwaltungstätigkeit, die häufig in Umsetzung von landesrechtlichem Ordnungs- bzw. Polizeirecht geschieht, muss in vielen Bereich die EU-Grundrechtscharta beachten. In diesem Bereich ist noch einiges unklar. Für Irritationen sorgt Rechtsprechung des EuGH, nachdem die Grundrechtscharta bereits dann einen Mitgliedsstaat binden soll, wenn das Handeln dieses Staaten sich nur im Bereich einer Grundfreiheit (z.B. dem freien Dienstleistungsverkehr) bewegt – ohne wirklich in diesen einzugreifen (näher Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, GrCh, § 51 Rn 8 ). Ebenfalls ungeklärt ist, wie sich der Anwendungsbereich des GG zu dem der EU-Grundrechtscharta verhält, wenn dem deutschen Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum verbleibt: In diesem Bereich will das BVerfG auch das GG voll zur Anwendung bringen. Unter Umständen kommt es hier zur Situation, dass beide Grundrechtskataloge kumulativ gelten.

Ausblick

Die Rechtsprechung des EuGH zu den EU-Grundrechten ist bisher rar. Von früheren, ungenauer formulierten Möglichkeiten, Rechtsschutz bei Grundrechtsverletzungen zu gewähren, hat der Gerichtshof äußerst selten Gebrauch gemacht. Die Rechtsprechung der Richter in Luxemburg war viel eher von der marktliberalen Logik der Grundfreiheiten geprägt – das hat dem Gerichtshof zu Recht viel Kritik eingebracht. Es ist offen, ob die Richter von diesem Kurs nun ohne weiteres abweichen werden.

Spätestens wenn die EU der EMRK beitritt, wird sich das aber schon zwangsläufig ändern müssen. Dann werden umstrittene Rechtsakte der EU unweigerlich nicht nur in Luxemburg, sondern auch in Straßburg angegriffen werden. Bereits jetzt laufen vor dem EuGH Verfahren zu den EU-Grundrechten, die in der Medienwelt mit großem Interesse verfolgt werden. Wie der EuGH sich hier verhält, wird auch für das deutsche Medienrecht maßgeblich sein.

Das Blog von Hans-Peter Lehofer berichtet regelmäßig aus dem Europäischen Medienrecht.

Rechtsgutachten aus dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestags: Zur Vereinbarkeit der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten mit der Europäischen Grundrechtecharta.

, Telemedicus v. 13.05.2011, https://tlmd.in/a/2000

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