Ansgar Koreng hat in der Zeitschrift Computer und Recht (CR 2009, 758 ff.) einen Aufsatz unter dem Titel „Meinungsmarkt und Netzneutralität – Kommunikationsgrundrechtliche Aspekte des diskriminierungsfreien Netzzugangs” veröffentlicht. Lesenswert ist der Aufsatz schon deswegen, weil er die Debatte um die moderne Medienordnung an einigen der brennendsten, aber auch immer noch ungelösten Stellen weiterbringt. Zum Beispiel spricht Koreng sich (mit Belegen in den Fußnoten) dafür aus, die Kommunikationsgrundrechte in Bezug auf das Internet einheitlich auszulegen – eine aus meiner Sicht längst überfällige Weiterentwicklung der Auslegung von Art. 5 GG.
Darum soll es aber hier nicht gehen. Im Kern behandelt der Aufsatz die Frage, ob und in welchem Umfang Netzneutralität verfassungsrechtlich geschützt sein muss.
Koreng vertritt die These, dass das Internet heute in einer ähnlichen Situation steckt wie der Rundfunk in den fünfziger Jahren – „Parallelen zum klassischen Rundfunkrecht drängen sich auf”, schreibt er. Weil die Pluralität des Meinungswettbewerbs im Internet gefährdet sei, müsse der Gesetzgeber regulierend eingreifen und die Netzneutralität sichern.
„Wie auf dem Markt der Wirtschaftsgüter ist auch auf dem Meinungsmarkt dort, wo natürliche Monopole bestehen, eine staatliche Intervention vonnöten, um Wettbewerb herzustellen. Dabei liegt die Aufgabe des Staates vor allem darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Wettbewerb überhaupt möglich ist. (…) Wie auf dem ersteren, können auch auf letzterem Monopole entstehen, die zum Marktversagen führen und Risiken sowohl für das demokratische Gemeinwesen als auch für individuelle Freiheiten mit sich bringen. Zwar vertraut das Recht auch für den Meinungskampf grundsätzlich auf das Funktionieren von Marktprozessen. Allerdings ist es hier angesichts der besonderen Gefährungen für das Gemeinwohl Sache des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Funktionieren des Meinungsmarktes nach seinen ihm eigenen Rationalitäten möglichst umfassend gewährleisten.”
Die These, dass der Meinungs-Wettbewerb zu Monopolbildung tendiert, belegt Koreng nicht weiter. Dabei lässt sich genau das kritisch hinterfragen: Neigen „Meinungen“ wirklich dazu, Monopole zu bilden? Die Akkumulation von Wirtschaftsmacht ist ein selbstverstärkender Prozess – das liegt an der Tatsache, dass einmal gewonnenes Kapital gewinnbringend reinvestiert werden kann. Ein vergleichbarer Prozess im Meinungs-Wettbewerb ist mir nicht bekannt.
Korengs Argumenation ist in diesem Punkt keine unübliche – selbst das BVerfG argumentiert in seinen neuern Rundfunkurteilen damit, dass „Konzentrationen“ auch in den neuen Medien drohen. Allerdings lässt sich diese These m.E. nur halten, wenn man miteinbezieht, dass sich unter Umständen wirtschaftliche Monopole auch auf überwiegende Meinungsmacht übertragen können. Aber eine Monopolbildung, die sich aus dem Meinungswettbewerb selbst ergibt, kann ich weder in der Theorie noch in der Praxis erkennen.
Das Internet als kommunikatives Trägermedium
Das heißt nicht, dass ich Netzneutralität nicht als Verfassungsgut ansehe. Allerdings aus einem anderen Blickwinkel: Ich sehe die Bedrohung für den demokratisch notwendigen „Wettbewerb der Ideen“ nicht bei der Bildung von „Meinungsmonopolen“. Ich sehe die Gefahr, dass sich durch Techniken wie deep packet inspection kommunikative Ungleichgewichte ergeben könnten. Das Internet ist bei genauer Betrachtung nicht der Raum, in dem die Kommunikation stattfindet – es ist das Trägermedium. Es transportiert die Kommunikationsvorgänge zwischen den Teilnehmern.
Netzneutralität ist im Kern nichts anderes als kommunikative Chancengleichheit. Das Internet bietet jeder angeschlossenen Stimme die Chance, riesige Rezipientenkreise zu erreichen – ohne großen Kapitalaufwand, ohne Lobby, nur Kraft der eigenen Argumente und mit Unterstützung der Wahrheit. In diesem Punkt ist das Internet wie eins zu eins umgesetzte Demokratietheorie: Der perfekte Diskurs, weitgehend unverzerrt und meist auch ungebremst. Das kann aber nur funktionieren, solange das Internet neutral bleibt: Das heißt, jedem angeschlossenen Kommunikationsteilnehmer die selbe Chance einräumt, gehört zu werden.
Das Internet als Raum für Individualkommunikation
Das Internet transportiert nicht nur die Pendants der alten, klassischen Medien. Es ist vor allem auch die Individualkommunikation, die sich ins Internet verlagert: Die Kommunikation von Mensch zu Mensch, meist in Form des klassischen Gesprächs. Bisher waren Eingriffe in die Individualkommunikation dem Staat fast vollständig unmöglich. Es gab Versuche, auch bis hierhin vorzudringen – das prominenteste ist das Beispiel der DDR, die versuchte, mittels massenhaft eingesetzter „Inoffizieller Mitarbeiter” auch noch die privatesten Räume zu kontrollieren. Und doch zeigt die Geschichte, dass auch dieser massive Einsatz letztlich erfolglos blieb. Dass die Einflussnahme hier so schwierig ist, liegt zum einen daran, dass solche Kommunikation naturgemäß fast immer innerhalb geschlossener, privater Räume erfolgt. Zum anderen aber auch daran, dass Individualkommunikation meist das neutralste aller Trägermedien verwendet: Die Luft. Der Transport erfolgt in Form von Schallwellen.
Durch die fortschreitende Digitalisierung und Medienkonvergenz verlagert sich Individualkommunikation in großem Umfang weg vom Trägermedium Luft. Was früher an Stammtischen, auf Kirchenkanzeln oder in Betriebskantinen diskutiert wurde, das diskutiert man heute vermehrt in Blogs, in Social Networks oder Internet-Foren. Damit verlagern sich die privaten Gespräche in einen Kommunikationsraum, den seine Teilnehmer nicht vollständig kontrollieren können – und auf den, während des Transports, der Staat oder Dritte Zugriff nehmen können. Eine verlockende Möglichkeit für alle jene, die öffentliche Meinungsbildung steuern, verzerren oder verhindern wollen. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung zeigt, dass die Individualkommunikation einen deutlich größeren Effekt auf die politische Meinungsbildung hat als die Massenmedien. Gerade sie muss besonders geschützt werden.
Politisch gewünscht oder verfassungsrechtlich geboten?
Zuletzt bleibt die Frage, inwieweit diese Argumente tatsächlich zwingend sind. Geht Art. 5 GG wirklich so weit, dass sich daraus konkrete Handlungsanweisungen an den Staat ableiten lassen? Es ist klar, dass diese Schlussfolgerung für Apologeten der Netzneutralität, wie Koreng offensichtlich einer ist, verlockend ist. Erlaubt diese Darstellung es doch, an aller (effektiven oder uneffektiven) demokratischen Willensbildung vorbei, den Schutz der Netzneutralität als verfassungsrechlich zwingend darzustellen und damit durchzusetzen. Andererseits lässt sich mit guten Argumenten die Ansicht vertreten, dass Netzneutralität zwar politisch erwünscht, aber nicht verfassungsrechtlich geboten ist.