Die Vorratsdatenspeicherung bleibt vorerst in Kraft. Allerdings müssen die Daten bei den Telekommunikationsunternehmen verbleiben, die sie gespeichert haben; eine Weitergabe an staatliche Behörden kommt nur in Betracht, wenn der Verdacht einer schwerwiegenden Straftat vorliegt. Dies ist das Ergebnis der Entscheidung 1 BvR 256/08 des BVerfG v. 19. März 2008.
Die Entscheidung fiel im Verfahren auf Einstweiligen Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG. Daraus ergibt sich, dass die Entscheidung nicht als Vorabentscheidung gelten kann. Das BVerfG prüft im Rahmen von Einstweiligen Verfügungen nicht die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes.
Vielmehr wägt das Gericht im Rahmen einer sog. „Doppelhypothese“ ab. Dabei stellt es zwei Hypothesen einander gegenüber:
1. Hypothese: Die Einstweilige Verfügung wird wie beantragt erlassen. Später stellt sich aber heraus, dass der Beschwerdeführer im Unrecht war, so dass seine Verfassungsbeschwerde erfolglos bleibt.
2. Hypothese: Die Einstweilige Verfügung wird nicht erlassen. Später stellt sich aber heraus, dass der Beschwerdeführer im Recht war, so dass seine Verfassungsbeschwerde Erfolg hat.
Das BVerfG wägt also letztlich die negativen Folgen gegeneinander ab, die sich ergeben, wenn es im Einstweiligen Rechtsschutz „falsch“ entschieden hat. Dabei betont es, dass dabei die Erfolgsaussichten der eigentlichen Verfassungsbeschwerde keine Berücksichtigung finden (Abs. 133). Das Gericht prüft allein darauf, ob die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet ist, dies lag hier jedoch nicht vor (Abs. 138).
I. Vorratsdatenspeicherung im Europarecht
Das Gericht hatte bei seiner Entscheidung eine sehr komplizierte Rechtslage zu beurteilen. Neben den Schwierigkeiten im einfachen Verfassungsrecht musste es sich auch damit auseinandersetzen, dass das zu beurteilende Gesetz teilweise durch eine europäische Richtlinie (RL 2006/24/EG (PDF)) vorgegeben ist.
Nach der sog. „Solange-Rechtsprechung“ ist das BVerfG für die Überprüfung von Rechtsakten, die auf der Umsetzung von europäischem Recht beruhen, nicht zuständig, so lange der EuGH eine gleichwertige grundrechtliche Kontrolle auf europäischer Ebene gewährleistet (st. Rspr., BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (162 ff.)). Dies gilt allerdings nicht, soweit dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung ein Spielraum zur Verfügung stand: Innerhalb dieses Spielraums ist er voll an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden (Abs. 134 f.). Nur soweit die Richtlinien eindeutig sind, greift der Anwendungsvorrang des Europarechts: Europäisches Sekundärrecht (z.B. Richtlinien) ist im Regelfall nicht an den Grundrechten zu messen.
Hier lag ein gemischter Fall vor: Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schreibt zwar vor, dass Telekommunikations-Unternehmen Daten auf Vorrat speichern müssen; sie schreibt allerdings nicht vor, unter welchen Voraussetzungen sie Daten an die staatlichen Behörden herausgeben müssen. Hier lässt die Richtlinie den Einzelstaaten einen Umsetzungsspielraum (Art. 4 RL 2006/24/EG). Vorliegend ist der deutsche Gesetzgeber in § 113b TKG von den Vorgaben der Richtlinie abgewichen: Nach der deutschen Vorschrift dürfen die TK-Unternehmen die Daten herausgeben:
1. zur Verfolgung von Straftaten,
2. zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder
3. zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes.
Diese Vorschrift war nicht durch Europarecht determiniert; entsprechend hat das BVerfG sich für zuständig erklärt (Abs. 134 ff.) und § 113b TKG in weiten Teilen aufgehoben (Abs. 151 ff.). Anders entschied es bei der zweiten angegriffenen Vorschrift, dem § 113a TKG: Dieser ist durch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung genau festgelegt. Das BVerfG dürfte diese Vorschrift also normalerweise nicht überprüfen.
Hier bestand allerdings die Besonderheit, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nach fast einhelliger Meinung selbst rechtswidrig ist. Die Republik Irland klagt deshalb bereits vor dem EuGH. Richtigerweise hat das Bundesverfassungsgericht dennoch keine Äußerung über die Rechtmäßigkeit der Richtlinie getroffen; ein entsprechendes Verwerfungsmonopol steht allein dem EuGH zu (Art. 234 EG-V).
Das BVerfG hat sich in seiner Entscheidung dennoch vorbehalten, im Ausnahmefall auch die Umsetzung von europäischem Sekundärrecht am Grundgesetz zu messen (Abs. 145); es hat dies jedoch offengelassen, weil es bereits aus anderen Gründen § 113b TKG nicht für verfassungswidrig hielt.
II. Die Abwägungsentscheidung im Rahmen der Doppelhypothese
Das BVerfG hatte zwei Vorschriften zu prüfen: Zum einen § 113a TKG, der die Speicherung der Daten verlangt; zum anderen § 113b TKG, der die Weitergabe der Daten zu Zwecken der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr regelt.
1. § 113a TKG – Speicherungspflichten für Daten
Bei § 113a TKG wog das BVerfG vor allem zwei Rechtsgüter gegeneinander ab: zum einen die sog. „Einschüchternden Effekte“, die die Vorratsdatenspeicherung auf die Bevölkerung hat; zum anderen das Öffentliche Interesse an Strafverfolgung (Abs. 147 f.). Ebenfalls in die Bewertung miteingeflossen dürfte sein, dass sich das BVerfG, hätte es § 113a TKG für rechtswidrig erklärt, in Widerspruch zu der Rechtsprechung des EuGH gesetzt hätte (Abs. 144).
Das BVerfG erkennt die Einschüchternden Effekte, die der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung noch in einem eigenen Dokument darzulegen versucht hatte, grundsätzlich als grundrechtsrelevant an (Abs. 148). Allerdings kommt es zu dem Ergebnis, dass diese Effekte nicht schwer genug seien, um das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu überwiegen (Abs. 148 f.):
Ein besonders schwerwiegender und irreparabler Nachteil, der es rechtfertigen könnte, den Vollzug der Norm ausnahmsweise im Wege einer einstweiligen Anordnung auszusetzen, liegt in der Datenspeicherung allein nicht. (…) Der in der Vorratsdatenspeicherung für den Einzelnen liegende Nachteil für seine Freiheit und Privatheit verdichtet und konkretisiert sich jedoch erst durch einen Abruf seiner Daten zu einer möglicherweise irreparablen Beeinträchtigung. (…) Des Weiteren hängt das Gewicht eines denkbaren Einschüchterungseffekts auch davon ab, unter welchen Voraussetzungen die bevorrateten Daten abgerufen und verwertet werden können.
Das BVerfG kam also zu dem Ergebnis, dass die Speicherung der Daten vorerst zulässig bleiben kann. Diese Entscheidung fiel jedoch im Rahmen der Doppelhypothese und nicht als Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand von Grundrechten.
2. § 113b TKG – Verwendung der nach § 113a gespeicherten Daten
Zu einem anderen Ergebnis kam das BVerfG bei § 113b TKG. Hier hatte der deutsche Gesetzgeber den Ermittlungsbehörden Befugnisse verliehen, die sehr weit waren; insbesondere noch weiter, als vom Europäischen Gesetzgeber vorgegeben. Auf Seiten der Beschwerdeführer warf das Gericht hier neben den „Einschüchternden Effekten“ ein weiteres Rechtsgut in die Waagschale: Falls die Daten aus der Vorratsdatenspeicherung an Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden, dann könnte dies dazu führen, dass diese Daten in Straf- oder Ermittlungsverfahren Verwendung finden. Möglicherweise würden Bürger also aufgrund von Informationen verurteilt werden, die der Staat rechtswidrig erhoben hat. Das BVerfG dazu in Abs. 156 ff.:
In dem Verkehrsdatenabruf selbst liegt ein schwerwiegender und nicht mehr rückgängig zu machender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG. Ein solcher Datenabruf ermöglicht es, weitreichende Erkenntnisse über das Kommunikationsverhalten und die sozialen Kontakte des Betroffenen zu erlangen, gegebenenfalls sogar begrenzte Rückschlüsse auf die Gesprächsinhalte zu ziehen. (…)
Weiter werden in vielen Fällen die durch den Verkehrsdatenabruf erlangten Erkenntnisse die Grundlage für weitere Ermittlungsmaßnahmen bilden, die ohne diese Erkenntnisse nicht durchgeführt worden wären. Solche Ermittlungsmaßnahmen, beispielsweise Wohnungsdurchsuchungen oder Überwachungen der Telekommunikation, können ihrerseits den Betroffenen erheblich belasten, ohne dass es darauf ankommt, ob sie den gegen ihn bestehenden Verdacht einer strafbaren Handlung erhärten oder widerlegen. Auch die darin liegenden Nachteile können im Anschluss an die Ermittlungsmaßnahme nicht mehr behoben werden.Schließlich können die abgerufenen Verkehrsdaten sowie die durch weitere Ermittlungsmaßnahmen, die an den Verkehrsdatenabruf anknüpfen, erlangten Erkenntnisse Grundlage eines Strafverfahrens und gegebenenfalls einer strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen werden, die ohne die Datenbevorratung und den Abruf der bevorrateten Daten nicht möglich gewesen wären. Wären die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Normen mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig, würde die Verurteilung in solchen Fällen auf Beweismitteln beruhen, die im Rahmen eines verfassungsgemäß durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nicht hätten gewonnen werden dürfen. Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob sich der darin liegende Nachteil für den Betroffenen nach einer Nichtigerklärung der Vorschriften über Datenbevorratung und Datenabruf in jedem Fall vollständig beheben ließe.
Diese Argumentation führt dazu, dass das Bundesverfassungsgericht die Verwertung von Vorratsdatenspeicherungs-Daten weitgehend verbietet. Eine Ausnahme macht es lediglich, wo die Ermittlungbehörden eine sehr schwerwiegende Straftat, eine sog. „Katalogtat“ verfolgen. Der entsprechende Katalog steht in § 100a Abs. 2 StPO und umfasst z.B. Geldwäsche, Hochverrat oder schweren Betrug. Zusätzlich verlangt das BVerfG, dass andere Ermittlungsmöglichkeiten keine Erfolg versprechen dürfen, die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und konkrete Verdachtsmomente vorliegen (§ 100a Abs. 1 StPO). Bei solch schweren Straftaten sieht das BVerfG das Interesse an Strafverfolgung als insgesamt hochrangiger an.
Auch hier folgte das Ergebnis nicht aus einer Abwägung von Grundrechten, sondern allein aus der oben beschriebenen Doppelhypothese. Aus dieser Doppelhypothese folgt auch die Auflösung eines spezifischen Sonderproblems, die das BVerfG in den Abs. 159 ff. vornimmt. Hier beschreibt das Gericht folgendes Problem: Wenn sich (wie oben unter „1. Hypothese“ beschrieben) herausstellt, dass die Strafverfolgungsbehörden ein Anrecht auf die Daten hatten, diese aber wegen der Einstweiligen Verfügung des BVerfG nicht herausverlangen konnte, dann hat das zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtete Unternehmen die Daten möglicherweise bereits gelöscht, wenn das BVerfG letztlich doch entscheidet. Diese negative Folge will das BVerfG vermeiden. Es schreibt daher vor, dass die Telekommunikationsunternehmen, falls eine entsprechende Anfrage erfolgt, die Daten zwar nicht weiterleiten sollen; sie sollen sie aber speichern und ggf. weiterleiten, falls das spätere Urteil das dann doch noch zulässt (Abs. 176). Die Daten könnten dann später noch verwendet werden.
III. Ausblick auf den Fortgang des Verfahrens
Offenbar stellt sich das BVerfG auf ein längeres Verfahren ein (Abs. 162). Bisher hat es keine Vorlageentscheidung zum EuGH getroffen, was verschiedentlich gefordert worden war (z.B. Dr. Beyer im J!Cast v. 11.1.2008). Anscheinend will das Gericht also abwarten, wie der EuGH entscheidet und erst daran anküpfend seine eigene Entscheidung treffen. Dass der EuGH aber möglicherweise über eine Vereinbarkeit mit den Europäischen Grundrechten gar nicht entscheiden wird, bleibt dabei zumindest vorerst außer Betracht.
Vorgaben an die Bundesregierung macht das Gericht auch bezüglich der Sachverhaltsermittlung: den Richtern fehlen echte Daten zur Effektivität der Vorratsdatenspeicherung. Das BVerfG hat zwar mit seiner Entscheidung noch ein Gutachten (PDF) des Max-Planck-Instituts für Internationales Strafrecht aus Freiburg abgewartet, das diese Fragen eigentlich klären sollte; auch dieses Gutachten beklagt allerdings, dass keine belastbaren Daten zu gewinnen seien. Das BVerfG hat nun der Bundesregierung den Auftrag erteilt, das Gericht zügig mit einer stichhaltigen Datenbasis auszustatten. Das BVerfG hat vor, zukünftige Entscheidungen über die Aufrechterhaltung der Einstweiligen Verfügung auf diese Daten zu stützen (Abs. 178).
IV. Fazit
Auch wenn das BVerfG der Kostenentscheidung nach (Tenor, 4.) den Antragstellern nur zu einem Drittel Recht gab: Diese Entscheidung kann als Erfolg für die Bemühungen des AK Vorratsdatenspeicherung gelten. Die Beschwerde hat die hohen Hürden, die zur Aufhebung eines formellen Gesetzes im Einstweiligen Rechtsschutz nötig sind, überwunden. Das BVerfG ist dabei so weit gegangen, wie es mit Rücksicht auf den Vorrang des Europarechts irgendwie möglich war.
Der Jubel im Lager der Datenschützer ist im Wesentlichen also berechtigt. Ob das BVerfG auch im Hauptsacheverfahren bei dieser Linie bleiben wird, bleibt allerdings weiter offen. Berichterstatter Hoffmann-Riem, der für die Einstweilige Verfügung noch zuständig war, tritt nun in Ruhestand. Das Hauptsacheverfahren wird ein anderer Richter führen, der möglicherweise einer anderen Linie folgt.