Telemedicus

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Chilling Effects und Überwachung

Mein Projekt zu Chilling Effects hat mit der Veröffentlichung im Tagungsband zur Telemedicus Sommerkonferenz (PDF, S. 31 ff.) ein vorläufiges Ende gefunden. Der finale Text basiert auf den bisherigen Blog-Veröffentlichungen, fügt aber auch einige Aspekte hinzu – beispielsweise Erörterungen zur besonderen Rolle von Meinungsführern. Außerdem enthält der Text im Tagungsband einen umfangreichen Fußnotenapparat.

Auch hier im Blog soll die Veröffentlichung noch einmal vollständig dokumentiert werden – ohne Fußnoten, aber mit Links. Ansonsten ist der folgende Text wortgleich zur Print– und PDF-Veröffentlichtung.

Die Argumentation mit „abschreckenden Effekten“ ist eigentlich nicht Neues. Schon lange argumentieren Rechtsprechung und Literatur, dass bestimmte staatliche Maßnahmen nicht nur einzelne Personen in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen, sondern „einschüchternd“ auch auf große, undefinierbare Personengruppen wirken. Und doch ist die Lehre von den „Chilling Effects“ derzeit so aktuell wie nie. Denn wenn es um die rechtliche Beurteilung staatlicher Überwachung geht, betrifft diese Lehre eine Schlüsselstelle.
Überwachung kann dazu führen, dass Bürger von der Nutzung ihrer Grundrechte abgeschreckt werden. Die Frage, wie ein solcher Einschüchterungseffekt rechtlich zu beurteilen ist, ist bisher aber weitgehend ungeklärt. Offen ist insbesondere auch die Frage, ob es eine „rote Linie“ gibt, die der Staat bei der Auslösung von Chilling Effects nicht überschreiten darf. In Zeiten, in denen massenhafte staatliche Überwachung immer weiter um sich greift, wird diese Frage unmittelbar relevant.

Diese Arbeit wird den Begriff der „Chilling Effects“ mit rechtswissenschaftlichen Methoden aufarbeiten (dazu Abschnitt 1). In einem zweiten Schritt wendet sie die gefundenen Ergebnisse auf den Fall der staatlichen Massenüberwachung an, die Edward Snowden aufgedeckt hat (Abschnitt 2).

1. Der Begriff der Chilling Effects

Der Begriff der „Chilling Effects” entstammt der angloamerikanischen Rechtstradition. Dort beschreibt er (etwas verkürzt definiert) Effekte staatlichen Handelns, die Bürger davon abhalten, von ihren Grundrechten Gebrauch zu machen; fast immer geht es dabei um die „Freedom of Speech“, d.h. die Meinungsäußerungsfreiheit. Abstrakt gesprochen handelt es um einen irgendwie störenden, einschüchternden Einfluss auf die Ausübung eines Freiheitsgrundrechts.

Teils inspiriert durch das angloamerikanische Recht, teils auch eigenständig, haben sich im deutschen Recht ähnliche Argumentationsmuster etabliert. Anders als in der englischen Rechtssprache fehlt aber im deutschsprachigen Rechtsraum eine einheitliche Begrifflichkeit, unter der die verschiedenen Erwähnungen sich zusammenfassen lassen. Dies macht es notwendig, zunächst einmal abstrakt eine eigene Definition dafür herauszuarbeiten, was „Chilling Effects“ der Sache nach ausmacht (dazu Abschnitt 1.1). Ist auf diese Weise definiert, wonach eigentlich zu suchen ist, kann auch die Rechtsprechung der oberen Gerichte auf Erwähnungen von „Chilling Effects“ ausgewertet werden (dazu Abschnitt 1.2). Aus der Spruchpraxis lassen sich dann auch erste Grundlinien der rechtlichen Beurteilung ableiten (dazu Abschnitt 1.3).

1.1 Chilling Effects als Selbstschädigungs- und Masseneffekte

Chilling Effects haben bestimmte Eigenschaften, die sie von herkömmlichen Grundrechtseingriffen unterscheiden.

1.1.1 Chilling Effects als Masseneffekte

Zum einen sind Chilling Effects meist Masseneffekte. Anders als bei „herkömmlichen“ Fällen der Eingriffswirkung staatlicher Maßnahmen geht es nicht um einen einzelnen Bürger, in dessen Rechte der Staat durch eine konkrete Maßnahme eingreift. Die Argumentation mit Chilling Effects taucht auf, wenn es im Ausgangspunkt zwar um einen einzelnen Grundrechtsträger geht,aber die inkriminierte staatliche Maßnahme eine Vielzahl von Bürgern betrifft. In der rechtlichen Abwägung stellen die Gerichte deshalb nicht nur auf den einzelnen Bürger ab; sie konzentrieren sich auf die Auswirkungen der staatlichen Maßnahme auf die Allgemeinheit. Deren Interessen werden in die rechtliche Bewertung einbezogen. Häufig führt erst die Betroffenheit der Allgemeinheit – und nicht die individuelle Betroffenheit des Beschwerdeführers – dazu, dass die staatliche Maßnahme als unverhältnismäßig verworfen wird.

Abbildung 1: Chilling Effects als Masseneffekte

1.1.2 Chilling Effects als Selbstschädigungseffekte

Zum anderen sind Chilling Effects dadurch gekennzeichnet, dass sie nur mittelbar, nämlich vermittelt durch das Gefühlsleben der Betroffenen wirken. Anders als bei herkömmliche Freiheitsbeschränkungen gibt es bei Chilling Effects keine staatliche Sanktion, keinen unmittelbaren Zwang, der auf den Bürger wirkt. Der Bürger schränkt sich vielmehr selbst ein, er verzichtet freiwillig darauf, von seinem Recht Gebrauch zu machen.

Diese „freiwillige“ Entscheidung wiederum beruht aber auf staatlichem Handeln, z. B. auf einem zivilrechtlich geschaffenen Haftungsrisiko oder dem Hervorrufen eines Gefühls des Überwachtwerdens.

Abbildung 2: Chilling Effects als Selbstschädigungseffekte

Es ist gerade dieser etwas vertrackte Wirkmechanismus, der die Chilling Effects so schwer greifbar macht: Aus einem greifbaren staatlichen Handeln entsteht ein diffuses Gefühl – und erst aus diesem Gefühl ergibt sich dann, gemeinsam mit verschiedenen anderen Einflüssen, das konkrete Handeln des Bürgers. Es gibt deshalb keine direkte Kausalbeziehung zwischen staatlichem Handeln und Freiheitsverlust, lediglich einen eher indirekten, psychisch vermittelten Zusammenhang.

1.1.3 Der Staat als (Mit-)Verursacher von Chilling Effects

Generell betrachtet kann kein Zweifel daran bestehen, dass Staaten Einschüchterungseffekte als normalen Teil ihres Regierungs- und Verwaltungshandelns einsetzen. So haben z.B. Angehörige der Bundeswehr eingeräumt, mit Überwachungsdrohnen in bestimmten Fällen besonders tief zu fliegen, um potentielle Kriegsgegner einzuschüchtern. Auch polizeiliche Kameraüberwachung im öffentlichen Raum wird offen mit dem Motiv begründet, durch Überwachung potentielle Straftäter abzuschrecken. Auch sozialwissenschaftlich ist die Existenz von Chilling Effects nachgewiesen.

Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt aber gleichzeitig, dass die Entscheidung eines Bürgers, ein konkretes Grundrecht in einer konkreten Situation nicht zu nutzen, nicht monokausal auf einem bestimmten staatlichen Handeln beruht. Ein Grundrechtsträger trifft die Entscheidung zum Grundrechtsverzicht vielmehr im Ergebnis seiner Gesamtsituation – und diese Gesamtsituation basiert auf einer Reihe unterschiedlicher Einflussfaktoren, von denen sich nur einige dem Staat zurechnen lassen. Die Verfasserin einer sozialwissenschaftlichen Studie Townend nennt als maßgebliche Faktoren für Chilling Effects neben dem (staatlich verursachten) Haftungsrisiko z.B. auch den Zugang zu Rechtsberatung bzw. das vorhandene rechtliche Wissen sowie die vorhandenen finanziellen Ressourcen. Der Autor einer anderen einschlägigen Studie Kenyon nennt als Faktoren, die Chilling Effects im Bereich der Pressefreiheit begünstigen oder abmildern, z.B. auch die örtliche Medienkonzentration, die finanziellen Rahmenbedingungen, journalistische Traditionen im betreffenden Land und das Vorhandensein einer funktionierenden Zivilgesellschaft und politischen Opposition. Dies sind Faktoren, die sich nicht unmittelbar dem Staat zurechnen lassen, gleichwohl aber auf die Nutzung oder Nicht-Nutzung des betreffenden Grundrechtes einwirken.

Die Liste der Faktoren, die sich potentiell auf die Entscheidung eines Bürgers für oder gegen den Grundrechtsgebrauch auswirken, lässt sich beliebig fortsetzen. Ob ein Bürger im jeweiligen Fall seine Kommunikationsfreiheiten nutzt, hängt von einer Vielzahl einzelner Faktoren ab, darunter vermutlich auch dem Ausmaß des jeweils vorhandenen Fachwissens, den konkret zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten oder simplen Rahmenfaktoren wie Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder politischer Einstellung.

Abbildung 3: Verschiedene Auslöser von Chilling Effects

1.1.4 Arbeitsdefinition

Nach dem Vorgesagten lässt sich somit eine Arbeitdefinition des Begriffs „Chilling Effects“ ableiten:

„Chilling Effects entstehen, wenn staatliches Handeln – meist mit Breitenwirkung – die Bürger davon abhält, von ihren Grundrechten Gebrauch zu machen.“

Dieses Verständnis soll den weiteren Überlegungen zugrundegelegt werden.

1.2 Chilling Effects in der Rechtsprechung

1.2.1 Überblick

Sucht man in der Rechtsprechung des BVerfG nach einer Argumentation mit den oben beschriebenen Chilling Effects, finden sich entsprechende Überlegungen häufig; der Sprachgebrauch ist aber uneinheitlich. Die Gerichte sprechen von beeinträchtigenden, hemmenden, beengenden, einschüchternden, abschreckenden, erschwerenden und abhaltenden oder einfach nur „negativen Wirkungen auf die generelle Ausübung” eines Grundrechts. Das BVerfG spricht in einigen Entscheidungen auch von Auswirkungen auf die Unbefangenheit des Grundrechtsgebrauchs oder von Selbstzensur. Gerade die neuere Rechtsprechung des BVerfG verwendet unmittelbar den Begriff „Einschüchterungseffekt”, offenbar als gezielte Anlehnung an den Begriff „Chilling Effects”, der zum ständigen Vokabular des EGMR gehört.

Auch der EGMR spricht allerdings nicht immer einheitlich von „Chilling Effects”, sondern verwendet auch Umschreibungen, z.B. „hampering” (behindernd), „deterring” (abschreckend), „discouraging” (entmutigend), „dissuading” (abhaltend), „preventing“ (vermeidend), „striking” (treffend) und „stifling” (erdrückend).

Häufiger als das BVerfG assoziiert der EGMR die einschüchternden Effekte unmittelbar mit staatlichem Handeln. Unerwünscht ist laut dem Gerichtshof die Ausübung von Druck („pressure”), die Einschüchterung („intimidation”), die Drohung mit Ordnungsmaßnahmen („threat of an ex post facto review”), die besitzergreifende Beeinflussung („proprietary interference in the editorial process”), oder einfach nur das ins-Auge-fassen bestimmter Vorgänge („envisaged”). In ständiger Rechtsprechung spricht der EGMR auch von einer Bedrohung („menace“ bzw. „threat“) durch Überwachung, die sich gerade auch auf die Freiheit der Kommunikation beziehe. In jüngeren Entscheidungen neigt der EGMR dazu, Chilling Effects bereits ab einer recht geringen Eingriffstiefe anzunehmen: Im Verfahren Gross v. Switzerland z.B. schon durch eine unklare Rechtslage, die für die Betroffenen zu längeren rechtlichen Auseinandersetzungen und standesrechtlichen Konsequenzen hätte führen können.

Das BVerfG vermeidet eine solche unmittelbare Assoziation: Die Chilling Effects erscheinen in dessen Rechtsprechung eher als unvermeidliche Nebenfolgen staatlichen Handelns, z.B. von der zivilgerichtlichen Schlichtung von Streitigkeiten oder von Handlungen von Ordnungsbehörden. Ein Paradigmenwechsel deutet sich allerdings in den jüngeren Entscheidungen an, die sich mit Chilling Effects aufgrund von Überwachung auseinandersetzen: Das BVerfG spricht darin von einem „abschreckenden Effekt fremden Geheimwissens”, womit der Staat gemeint ist, oder, gerade im Kontext der staatlichen Überwachung, auch von einem „bedrohlichen Gefühl des Beobachtetseins”. Hier erscheint der Staat als umittelbarer Verursacher von Chilling Effects.

Fast vollständig unbeachtet geblieben ist der Gedanke der Chilling Effects soweit ersichtlich in der Rechtsprechung des EuGH. Nur in einer Entscheidung von 2010 spricht der Gerichtshof bezüglich der Niederlassungsfreiheit von einer „abschreckenden Wirkung” auf Investoren. Generell ergibt sich allerdings eine Parallele zur Dassonville-Formel: Nach dieser Formel beschränken nicht nur konkrete Ein- und Ausfuhrkontrollen die Warenverkehrsfreiheit, sondern auch alle „Maßnahmen gleicher Wirkung”. Hierzu wären sicherlich auch Abschreckungseffekte zu zählen.

Im Übrigen ist die einzige nennenswerte Andeutung der „Chilling Effects”-Argumentation durch den EuGH die jüngste Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung: Der Gerichtshof erwähnt dort, die Vorratsdatenspeicherung sei geeignet, bei den Bürgern das „Gefühl zu erzeugen, dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist”.

1.2.2 Auswertung

Ein Überblick über die Rechtsprechung zeigt, dass der Gedanke der Chilling Effects zwar häufig, aber keineswegs immer mit der Meinungsfreiheit assoziiert wird. Versucht man eine Zuordnung zu unterschiedlichen Grund- bzw. Freiheitsrechten, zeigt sich eine breite Verteilung dieser Argumentationsfigur:

• Meinungsfreiheit,
• Rundfunkfreiheit,
• Pressefreiheit,
• Versammlungsfreiheit,
• Wissenschaftsfreiheit,
• Recht auf Privatleben,
• Recht auf Entscheidung über das eigene Lebensende,
• Die Funktionsfähigkeit eines Strafprozesses,
• Strafverteidigung durch einen Rechtsanwalt,
• Die Möglichkeit, Rechtsschutz zu suchen,
• Allgemein alle Grundrechte bzw. die Allgemeine Handlungsfreiheit,
• Niederlassungsfreiheit.

Es zeigt sich somit, dass der Gedanke von der Rechtsprechung auf viele Grundrechte angewandt wird – teils sogar auf rechtlich geschütztes Verhalten, das gar nicht unmittelbar mit den Kommunikationsfreiheiten zu tun hat.

Dass die Rechtsprechung die „Chilling Effects” nicht auf Kommunikationsfreiheiten beschränkt, zeigt, dass es sich weniger um eine Ausprägung eines bestimmten grundrechtlichen Schutzbereichs handelt, sondern eher um eine juristische Argumentationsfigur. Die Übersicht zeigt aber auch, dass die Gerichte diese Argumentationsfigur nicht beliebig einsetzen. Die Gerichtsentscheidungen lassen sich in zwei Fallgruppen einteilen:

  • Entweder die Gerichte argumentieren mit abschreckenden Effekten, wenn sie die Unbefangenheit der Betroffenen in einem bestimmten Bereich als besonders schützenswert erachten – beispielsweise die Kommunikation zwischen Journalist und Quelle oder die Aussagen von Zeugen im Strafprozess. Auch die Diskussion politischer Belange halten die Gerichte für besonders schutzwürdig, speziell was die „Schlüsselpositionen“ des politischen Diskurses angeht (Journalisten, Verlage etc.). Es geht also um Verhalten, das nach Auffassung der Gerichte besonderen Schutz verdient.
  • Oder es geht um Fälle, in denen der konkrete Eingriff nicht nur die jeweils verletzte Person betrifft, sondern als abschreckender Effekt auch die Allgemeinheit. Wenn ein Chilling Effect derartige Breitenwirkung entfaltet, dass er das Funktionieren der gesellschaftlichen, demokratischen Prozesse einschränkt, wird dies von den Gerichten ebenfalls stärker gewichtet.

Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang, dass die Beinträchtigung durch Chilling Effects den „Kern” der grundrechtlich geschützten Persönlichkeitssphäre betreffen kann, an anderer Stelle spricht es von einem Eingriff in die „Substanz” eines Grundrechts. Der EGMR argumentiert im Grundsatz ähnlich.

Die Gerichtsentscheidungen, die Bezug auf staatlich organisierte Massenüberwachung nehmen, lassen sich beiden Fallgruppen gleichzeitig zuordnen: Einerseits betrifft Überwachung nicht nur einzelne Personen, sondern die Gesellschaft als Gesamtheit. Andererseits heben die Gerichte hervor, dass die Bürger gerade auch bei den Aktivitäten eingeschüchtert werden, die für die Demokratie besonders wichtig sind (Meinungsbildung zu Themen von Allgemeininteresse, Wahlen etc.). Die Gesellschaft wird dadurch in der Möglichkeit zur Selbstreflektion und Selbsterneuerung eingeschränkt.

Die Entscheidungen, die sich mit Chilling Effects durch Überwachung beschäftigen, beziehen sich insoweit auch nicht auf konkrete Grundrechte; an deren Stelle tritt die Erwähnung allgemein der „Freiheit der Kommunikation” bzw. der „Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen”.

Indem die Gerichte in den Entscheidungen zur Überwachung anerkennen, dass einschüchternde Effekte auch gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten können, lösen sie sich ein Stück weit von ihrer anderweitigen Rechtsprechung, die eher auf die Einschüchterung bestimmter Personengruppen abgestellt hatte (Journalisten etc.). Gleichzeitig ist den Überwachungs-Entscheidungen aber auch anzumerken, dass die Gerichte die abschreckenden Effekte insoweit nicht so stark gewichten wie an anderer Stelle: Wenn „Otto Normalverbraucher“ sich aufgrund von Überwachung etwas unwohl fühlt, ist das eben nicht vergleichbar mit einem Journalisten, der wegen eines konkreten Haftungsrisikos die „Schere im Kopf” spürt und sich nicht traut, eine bestimmte Information zu veröffentlichen.

1.2.3 Was ergibt sich daraus für den NSA-Skandal?

Nach dem oben Gesagten lässt sich festhalten, dass „Chilling Effects” eine Rechtsfigur sind, die sowohl in der Rechtsprechung des BVerfG als auch des EGMR anerkannt ist und bei beiden Gerichten eine lange Tradition hat. Auch wenn die Begrifflichkeiten nicht einheitlich sind, ist doch eindeutig die Überzeugung der Gerichte erkennbar, den Grundrechten nicht nur subjektiv-rechtlichen Schutz zuzugestehen, sondern auch einen objektivrechtlichen Schutzgehalt, der auch einen Schutz der Gesellschaft gegen Einschüchterungseffekte umfasst. Die Gerichte sehen die Einschüchterungseffekte als ein Übel, das es möglichst zu vermeiden gilt und stellen diese Überlegung in ihre rechtliche Bewertung ein – meist als Teil des Abwägungsprozesses.

Ebenfalls ist festzuhalten, dass das BVerfG, der EGMR und der EuGH auch die staatliche Überwachung als Auslöser von Chilling Effects behandeln. Die bisherige Rechtsprechung der Gerichte behandelte allerdings immer konkrete Überwachungsmaßnahmen, z.B. die zeitlich begrenzte und gesetzlich eingehegte Speicherung bestimmter Telekommunikationsdaten („Vorratsdatenspeicherung“). Die Massenüberwachung, die Edward Snowden aufgedeckt hat, geht demgegenüber viel weiter. Der richtige Prüfungsmaßstab muss insofern – neben individuellen Grundrechtseingriffen – auch der Effekt sein, der von der Massenüberwachung auf die Gesamtgesellschaft ausgeht.

In diesem Zusammenhang hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung richtigerweise auch bereits festgehalten, dass eine Gesetzgebung, „die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte […] von vornherein mit der Verfassung unvereinbar” wäre; „die Freiheitswahrnehmung der Bürger” darf „nicht total erfasst und registriert werden”. Dies ist der Bewertungsmaßstab, an dem sich auch die Geheimdienst-Massenüberwachung messen lassen muss.

1.3 Dogmatische Einordnung von Chilling Effects

Die Argumentation mit Chilling Effects wird in der Rechtsprechung häufig eingesetzt, erscheint aber auch relativ beliebig. Selten wird klar, warum das Argument an einer bestimmten Stelle der Rechtsprüfung erscheint und welches Gewicht das entscheidende Gericht ihm zumisst. Auch in der Literatur fehlt es bisher fast vollständig an einer dogmatischen Aufarbeitung dieser Rechts- bzw. Argumentationsfigur. Zu Recht wurde daher die Argumentation mit Einschüchterungseffekten als „argumentativer Joker“ kritisiert.

Im Folgenden soll deshalb versucht werden, die Chilling Effects rechtsdogmatisch etwas greifbarer zu machen. Diese Untersuchung kann hierbei nur der Auftakt für weitere Forschung sein: Trotz der Häufigkeit und Relevanz dieser Argumentationsfigur ist sie rechtswissenschaftlich bisher kaum aufgearbeitet.

Die folgende Erörterung greift drei Einzelfragen heraus. Zuerst soll geklärt werden, ob „Chilling Effects“ per se als negativ zu bewerten sind, oder ob es auch „positives chilling“ gibt (dazu Abschnitt 1.3.1). In einem zweiten Schritt soll herausgearbeitet werden, wofür der Staat bei Chilling Effects genau verantwortlich ist – mit anderen Worten, welches Handeln genau Anknüpfungspunkt der rechtlichen Prüfung ist (dazu Abschnitt 1.3.2). Daran anknüpfend lässt sich dann in einem dritten Schritt auch die Frage beantworten, ob Chilling Effects per se als Grundrechtseingriffe zu behandeln sind (dazu Abschnitt 1.3.3).

1.3.1 Positives und negatives „Chilling“

Die Argumentation mit Einschüchterungseffekten ist in der Vergangenheit scharfer Kritik ausgesetzt gewesen. So kommentiert Ladeur eine Entscheidung des BVerfG:

„Der Beschluss […] ordnet sich in eine Tendenz ein, das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GG in einer stark individualisierten Betrachtungsweise zu einem Recht auf expressive Selbstdarstellung eigener Befindlichkeiten zu machen, der gegenüber der Öffentlichkeitsbezug der Kommunikation immer mehr zurücktritt (vgl. auch BVerfG ZUM 2013, 797). Dies entspricht auch einem in den USA vorherrschenden Verständnis, für das der Kampf gegen die Erzeugung von »chilling effects« als Folge der Sanktion von Meinungsäußerungen jede Frage nach den Schranken der Meinungsfreiheit oder gar nach deren Bedeutung für die öffentliche Meinung (Ladeur, AfP 2010, 224) zurücktreten lässt. Die Vermutungsregel hat ihren guten Sinn gehabt, solange es noch einen festen Bestand an Konventionen über die Abgrenzung von Richtigem und Falschem, von Sagbarem und des Unsagbaren gab. Inzwischen ist das Pendel längst in die andere Richtung ausgeschlagen: die Öffentlichkeit wird überschwemmt mit früher unsäglichen, maß- und haltlosen Äußerungen, die jede Unterscheidungsfähigkeit vermissen lassen. Vielfach werden komplexe Sachverhalte durch scharfe Personalisierung vereinfacht und lösen gerade dadurch in umgekehrter Richtung, bei den Adressaten der Kritik, den »chilling effect« aus, der bei den Meinungsaktivisten längst nicht mehr eintreten kann.“

Der Kritik von Ladeur ist insofern zuzustimmen, als dass die Argumentation mit Chilling Effects aufgrund ihrer Unschärfe zum Missbrauch verführt. Ladeur hat außerdem Recht, wenn er kritisiert, dass die Argumentation mit Chilling Effects auch zu einer Überdehnung des jeweiligen Grundrechtes führen kann. Wenn nämlich jede staatliche „Einmischung“ in die Frage des Grundrechtsgebrauchs automatisch als unerwünscht bewertet wird, verliert der Staat die Möglichkeit, in den Grundrechtsgebrauch der Bürger steuernd einzugreifen. Genau dies ist aber eine der grundsätzlichen Aufgaben eines Rechtsstaates: Den Freiheitsgebrauch der Bürger im Verhältnis untereinander zu moderieren und in Regeln zu fassen. Der Staat darf und muss zwischen Rechtspositionen abwägen, er darf und muss dabei auch Grundrechte einschränken. Nicht jede Einschränkung der Meinungsfreiheit ist deshalb verfassungsrechtlich unzulässig; erst die Tatsache, dass ein Eingriff nicht zu rechtfertigen ist, macht ihn unzulässig. Erst die verfassungsrechtliche Prüfung als Ganzes ergibt die Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Einschränkung mit dem Maßstab des Grundgesetzes vereinbar ist.

Ein Verständnis von Chilling Effects, die jede Einschüchterung als per se negativ bewertet, wäre deshalb mit dem Maßstab des Grundgesetzes nicht vereinbar. Natürlich darf der Staat Bürger beim Gebrauch ihrer Meinungsfreiheit dahingehend „einschüchtern“, dass sie z.B. nicht Volksverhetzung betreiben, über andere unwahre Tatsachen behaupten oder ungerechtfertigt fremde Geheimnisse offenbaren. Dass der Staat solches Handeln mit Schadensersatz- oder Straffolgen belegt, ist eine „Einschüchterung“, die ihren Sinn hat.

Es ist demnach in die Überlegung mit einzubeziehen, dass es auch „positives“ Chilling geben kann. Nicht jede staatliche Einschüchterung ist als negativ einzustufen. Zwischen „positivem“ und „negativem“ Chilling ist zu unterscheiden.

Um zwischen „positivem“ und „negativem“ Chilling abzugrenzen, bietet sich eine Parallelüberlegung zur herkömmlichen Eingriffsdogmatik an. Diese gestaltet sich wie folgt:

  • Immer wenn der Staat in Grundrecht eingreift, ist sein Handeln rechtfertigungsbedürftig. Mit anderen Worten: Nur, wenn (und soweit) der Staat sich auf die Grundrechtsschranken oder konkurrierendes Verfassungsrecht berufen kann, ist sein Handeln auch mit der Verfassung vereinbar. Auch wenn eine Rechtfertigung grundsätzlich besteht, muss der Staat sich aber an die Schranken-Schranken halten, insbesondere an das Verhältnismäßigkeitsgebot.
  • Analog lassen sich auch die Chilling Effects einordnen: Demnach gilt für jedes hoheitliche Handeln, das Bürger vom Gebrauch eines Grundrechts abschreckt, die Vermutung, dass dieses Handeln „negativ“ zu bewerten ist. Bewegt sich die Einschüchterung aber im Rahmen der Grundrechtschranken oder schützt sie konkurrierendes Verfassungsrecht, kann es sich ausnahmsweise auch um „positives Chilling“ handeln.Wie bei der herkömmlichen Eingriffsdogmatik ist aber auch hier die Korrekturschranke des Verhältnismäßigkeitsprinzips einzubeziehen: Das heißt, selbst „positives Chilling“ wäre verfassungsrechtlich als negativ zu bewerten, soweit es eine Einschüchterung auslöst, die über den verfassungsrechtlich legitimen Effekt hinausgeht.

Bei den durch Geheimdienstüberwachung ausgelösten Einschüchterungseffekten ist die Überlegung, es könnte sich um „positives Chilling“ handeln, eher fernliegend. Dies schon deshalb, weil die Einschüchterung gar nicht das Ziel der Geheimdienste ist, sondern eher als unerwünschte (gleichwohl in Kauf genommene) Nebenfolge der Informationssammlung auftritt.

Anders mag das mit Überwachung in Einzelfällen sein: So wird z.B. argumentiert, dass offene Kameraüberwachung eine einschüchternde Wirkung haben kann, die Bürger von Straftaten abhält. Je nach Einzelfall ließen sich solche Maßnahmen auch nach „positives Chilling“ einordnen.

Die von den Geheimdiensten betriebene Massenüberwachung betrifft aber alle Lebensbereiche. Sie schüchtert nicht nur bei verfassungsrechtlich unerwünschtem Verhalten ein. Ganz im Gegenteil führt Massenüberwachung zu einem Rückgang an verfassungsrechtlich erwünschtem Verhalten. Es handelt sich demnach um „negatives“ Chilling.

1.3.2 Konkrete Verantwortlichkeit des Staates

In Rechtsverfahren, in denen die Zulässigkeit von Chilling Effects beurteilt werden soll, geht es regelmäßig um staatliches Handeln. Die Grundrechte binden die Hoheitsgewalt, nicht jedoch unmittelbar private Grundrechtsträger. Eine Abschreckungwirkung, die von Privatpersonen ausgeht, wird von der Abwehrfunktion der Grundrechte nicht erfasst.

Diese Differenzierung wird relevant, wenn es um den rechtlichen Prüfungsmaßstab geht, der auf Chilling Effects angewendet wird. Denn oben in Abschnitt 1.1.3 ist bereits herausgearbeitet worden, dass Chilling Effects nie auf eine einzelne Ursache zurückzuführen sind. Sie entstehen als Ergebnis einer eigenen Entscheidung der jeweils betroffenen Bürger. Diese wiederum entscheiden sich nicht monokausal aufgrund einer einzelnen Ursache für oder gegen den Grundrechtsgebrauch, sondern beeinflusst durch eine Rahmensituation, die ihrerseits auf verschiedenen Einflussfaktoren beruht. Zu diesen Einflussfaktoren zählen hoheitlich bestimmte Determinanten genauso wie das Verhalten anderer Privatpersonen.

Es wäre insofern zu kurz gegriffen, jedes Auftreten von Chilling Effects einseitig dem Staat zuzurechnen und diesem die Pflicht aufzuerlegen, Einschüchterungseffekte generell zu beseitigen. Es überschneiden sich – auch im rechtlichen Sinne – die Verantwortlichkeitssphären der Hoheitsmacht, der betroffenen Bürger und der anderen Grundrechtsträger. Insofern ist zu differenzieren:

  • Die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension gelten nur unmittelbar zwischen Bürger und Staat. Der Staat ist also in erster Linie nur verantwortlich für sein eigenes Handeln, nicht für andere (private) Einflussfaktoren der Chilling Effects, z.B. für den Zugang des einzelnen Grundrechtsträgers zu bestimmten Ressourcen, z.B. zu Rechtsberatung. Insofern lässt sich festhalten, dass der Staat erst einmal nur verpflichtet ist, seine eigene Einflussnahme auf die „Rahmensituation“ der Bürger grundrechtskonform zu gestalten.
  • Eine staatliche Pflicht zur Abwehr von Chilling Effects, die von Dritten ausgehen, wäre allenfalls mit aus Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten begründen. Eine Pflicht zum schützenden Eingreifen des Staates ergibt sich aber erst, wenn das sog. Untermaßverbot verletzt wird. Diese Grenze ist jedoch erst bei starken Grundrechtsbeeinträchtigungen unterschritten; sie verpflichtet den Staat nicht dazu, grundrechtsschützend in jede private Lebenssphäre einzudringen.

Einschüchterungen durch Dritte muss der Staat also nur abstellen, soweit ihm dies durch eine rechtliche Schutzpflicht abverlangt wird. Dies wäre lediglich im Ausnahmefall anzunehmen, z.B. wenn ein Dritter die Bürger vom Grundrechtsgebrauch so stark abschreckt, dass diese Grundrechte in ihrem Kernbereich betroffen sind.

1.3.2.1 Keine unmittelbare Verantwortlichkeit für „Selbstschädigungen“

Nicht nur zwischen der Verantwortlichkeit von Staat und Dritten ist abzugrenzen, sondern auch zwischen der Verantwortlichkeit des Staates und der des betroffenen Grundrechtsträgers selbst.

Denn grundsätzlich setzt die oben gefundene Definition von Chilling Effects voraus, dass die Bürger (mehr oder weniger) freiwillig auf ihr Grundrecht verzichten. Der Staat greift im Fall von Chilling Effects also nicht zwingend, d.h. ver- oder gebietend in die Freiheitssphäre des Bürgers ein. Er beeinflusst vielmehr lediglich die Rahmensituation des Bürgers dahingehend, dass dieser sich selbst entscheidet, ein Grundrecht nicht zu nutzen.

Rechtlich gesehen führt die Einordnung von Chilling Effects als „Selbstschädigungseffekten” zu einer grundsätzlichen Frage: Unterbricht die eigenverantwortliche, „freiwillige” Selbstschädigung des Bürgers den Zurechnungszusammenhang zum Staat? Oder muss der Staat eine Selbstschädigung der Bürger verhindern – selbst wenn diese sich selbst beschränken wollen?

Zugespitzt formuliert: Ist Zensur dasselbe wie Selbstzensur?

Die Antwort ergibt sich letztlich aus dem freiheitlichen Prinzip der Grundrechte: Wenn ein Bürger beschließt, seine Meinungsfreiheit nicht zu nutzen, hat er auch in dieser Entscheidung grundrechtlichen Schutz. Die Grundrechte schützen auch den „negativen” Freiheitsgebrauch, also z.B. das Recht, eine bestimmte Meinung nicht zu äußern. Der Staat kann die Bürger deshalb nicht dazu zwingen, sich nicht einschüchtern zu lassen und ihre Grundrechte trotz der Einwirkung von Chilling Effects dennoch zu nutzen.

Wenn die Bürger es demnach selbst in der Hand haben, Meinungen (nicht) zu äußern, dann kann man ein solches Verhalten dem Staat nicht unmittelbar zum Vorwurf machen. Denn sein Einfluss ist begrenzt. Und wo der Staat keinen Einfluss hat, ist er auch nicht verantwortlich: Hier weist das Recht dem Bürger eine Eigenverantwortung zu.

Damit lässt sich festhalten: Für den Chilling Effect, d.h. das selbstschädigende Verhalten der Bürger, ist der Staat nicht verantwortlich.

1.3.2.2 Verantwortlichkeit des Staates für eigenes Handeln

Der Staat ist nach dem Vorgesagten aber nicht von jeder Verantwortung freigesprochen. Denn natürlich muss der Staat zumindest für das Handeln verantwortlich sein, das er durch seine Organe selbst vornimmt, das ihm direkt zurechenbar ist. Es ist insofern nicht die Selbstschädigung der Bürger, die zum grundrechtlichen Anknüpfungspunkt wird – es ist die externe staatliche Einwirkung auf die Rahmensituation, in der sich der Bürger befindet.

Abbildung 4: Konkrete Verantwortlichkeit des Staates

Somit gilt: Wirkt eine staatliche Einwirkung auf die Bürger derart „abschreckend”, dass sie für den Bürger eine spürbare Einschränkung beim Grundrechtsgebrauch bedeutet, muss sich der Staat sich für diese Einwirkung rechtlich verantworten. Insbesondere gilt das, wenn der Staat gezielt Abschreckungseffekte hervorruft.

1.3.3 Sind Chilling Effects Grundrechtseingriffe?

Unter Rückgriff auf das oben Ausgeführte lässt sich auch die Frage beantworten, ob Chilling Effects als solche Grundrechtseingriffe sein können, d.h. ob sich die staatliche Einwirkung an den Grundrechtsschranken messen lassen muss.

In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, von der h.M. nicht nur nach der Intention des staatlichen Handelns, sondern auch nach seinem (grundrechtseinschränkenden) Effekt beantwortet wird. Rechtsprechung und Lehre haben sich zu Recht schon lange vom sog. „klassischen Eingriffsbegriff“ gelöst, der als Voraussetzung eines Eingriffs ein finales, imperatives, rechtsförmiges und mit Sanktionswirkung versehenes staatliches Handeln voraussetzte. Es gilt die Lehre vom „modernen“ Eingriffsbegriff, bei dem auch staatliches Handeln ohne unmittelbare Zwangswirkung als Eingriff gewertet werden kann. Dies gilt z.B. auch für Informationshandeln (sog. „mittelbar-faktische Eingriffe“ ). Notwendig ist dann aber, dass das staatliche Handeln den Grundrechtsgebrauch „erschwert“ und dabei eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreitet.

Es kommt also darauf an, ob der Staat durch eigenes Verhalten eine Einschüchterungswirkung hervorruft, die den Grundrechtsgebrauch derart erschwert, dass die Einschüchterung eine gewisse Spürbarkeitsschwelle überschreitet. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass das Bestehen von Chilling Effects auch zur Annahme eines Grundrechtseingriffs führt. Es kommt aber darauf an, (1.) ob die konkrete Einschüchterungsmaßnahme die Verhaltensänderung bezweckt und (2.) wie intensiv die Einschüchterung wirkt.

Auch Überwachung kann eine solche Einschüchterungswirkung verursachen und deshalb als „mittelbar-faktischer” Eingriff zu werten sein. Ab welchem Punkt die Überwachungs-Einwirkung die Erheblichkeitsschwelle überschreitet und damit zum Grundrechtseingriff wird, ist aber im Einzelfall zu entscheiden und eine Wertungsfrage. Grundsätzlich lässt sich sagen: Sobald ein Einschüchterungseffekt für den einzelnen direkt erkennbar wird, sobald er also einen direkt auf ihn und seinen Grundrechtsgebrauch gerichteten staatlichen Einfluss spüren kann, verursacht einschüchternde Überwachung auch insoweit einen Grundrechtseingriff.

Wichtig ist, dass die Frage nach der Erheblichkeit bzw. Spürbarkeit des staatlichen Handelns für jedes Grundrecht gesondert zu betrachten ist. Denn ein staatliches Handeln, das im Bereich des einen Grundrechts nur einschüchternd wirkt, kann im Bereich eines anderen Grundrechts ein klarer und eindeutiger Grundrechtseingriff sein. Genau so ist es im Regelfall bei der Überwachung: Staatliche Überwachung mag auf Ebene der Meinungsfreiheit nur als „Chilling Effect” zu werten sein, der die Erheblichkeitsschwelle für sich gesehen noch nicht überschreitet. Unabhängig davon liegen Grundrechtseingriffe aber vor, wenn die Überwachung z.B. private Telekommunikation betrifft (Art. 10 GG), in Wohnungen eindringt (Art. 13 GG), die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme beeinträchtigt (IT-Grundrecht, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) oder der Staat personenbezogene Daten erhebt, speichert oder deren Zweck ändert (Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG).

Letztlich liegt hierin der Grund, warum die Frage, ob Chilling Effects Grundrechtseingriffe sind, dogmatisch bisher kaum aufgearbeitet ist: Es kommt darauf meist nicht an. „Chilling Effects” sind eine Argumentationsfigur, die meist begleitend zu anderen Rechtsprüfungen eingesetzt wird; die Frage nach ihrer Qualität als Grundrechtseingriff stellt sich dann gar nicht.

Dennoch sind Chilling Effects – unabhängig von ihrer Einordnung als Grundrechtseingriffe – überall dort in eine rechtliche Prüfung einzubeziehen, wo die Interessen der Allgemeinheit für die Rechtsbewertung relevant sind. Insbesondere gilt dies nach der Lehre von der objektiv-rechtlichen Wirkung der Grundrechte dort, wo sich ein Rechtstatbestand für solche allgemeinen Erwägungen öffnet, also insbesondere bei unbestimmte Rechtsbegriffen und Abwäungen zwischen verschiedenen Rechtsgütern. Regelmäßig betrifft das die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hier taucht die Argumentation mit den „Chilling Effects” in der Praxis auch am häufigsten auf.

, Telemedicus v. 26.11.2014, https://tlmd.in/a/2866

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