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Charlie Hebdo: Warum wir auch an Chilling Effects denken sollten

Kurze Durchsage in eigener Sache:

In meinem langen Text über Chilling Effects habe ich als eines von mehreren Beispielen für Meinungsführer von Minderheitengruppen, auf die der öffentliche Diskurs besonders angewiesen ist, Moslems angeführt.

Wörtlich schrieb ich:

„Die politische Betätigung von Moslems steht in vielen gesellschaftlichen Sphären der westlichen Welt unter Generalverdacht, gerade wenn es sich um Moslems handelt, die ihren Glauben auch politisch begreifen. Gleichzeitig besteht aber gerade über die mit der politischen Auslegung des Islam verknüpften Fragen enormer gesellschaftlicher Diskussionsbedarf. Der demokratische Diskurs ist darauf angewiesen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und möglichst viele Informationen, verschiedene Sichtweisen und Deutungsvarianten verarbeiten zu können. Wie soll das aber funktionieren, wenn eine der relevantesten Gruppen an diesem Diskurs nicht oder nur sehr zaghaft teilnimmt, weil sie eingeschüchtert wurde?“

Nur wenige Wochen später hat dieser Text gespenstische Aktualität bekommen: Große Menschenmassen ziehen durch Dresden unter dem Eindruck einer „Islamisierung des Abendlandes”, die wenig mit der Realität zu tun hat. Und in Frankreich interpretieren offenbar einige junge Männer ihren muslimischen Glauben als Rechtfertigung und Grund für kaltblütigen Mord.

In mir kommt die Frage auf, wie diese Entwicklungen verlaufen wären, wenn an unserem öffentlichen Diskurs mehr religiös-politisch denkende Moslems teilnehmen würden. Was, wenn beispielsweise eine muslimische Organisation die Organisationsfähigkeit und den Mut gehabt hätte, gegen die Mohammed-Bilder auf Charlie Hebdo zu klagen – vergleichbar der Klage der katholischen Kirche gegen das „Papaleaks”-Titelbild auf der Titanic? Ich meine damit nicht, dass eine solche Klage inhaltlich berechtigt gewesen wäre. Aber sie wäre ein legitimer Akt der Verteidigung der eigenen religiösen Werte gewesen. In Richtung von Männern wie den Charlie Hebdo-Attentätern wäre sie ein Signal gewesen: „Seht her, ich bin wütend wie ihr, ich bin auf eurer Seite. Aber ich vertrete mein Ziel friedlich und nach den Regeln dieser Gesellschaftsordnung.” Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie ein gut funktionierender Diskurs – gerade wenn er kontrovers geführt wird – auch befriedende Wirkung haben kann.

Was ich damit sagen will: Unser öffentlicher Diskurs braucht politisch denkende Moslems – gerade jetzt, gerade solche mit „unbequemen” Meinungen. Wir können es uns nicht leisten, ausgerechnet diese Gruppe einzuschüchtern, sei es durch Überwachung, sei es durch andere Maßnahmen.

, Telemedicus v. 08.01.2015, https://tlmd.in/a/2884

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