„Schutz der Intimsphäre setzt der Kunstfreiheit Grenzen“ – so lautet der Beschluss des BVerfG im Fall „Esra“. Damit darf das Buch des Schriftstellers Maxim Biller weiterhin nicht veröffentlicht werden. Der Verlag hatte gegen ein entsprechendes BGH-Urteil Verfassungsbeschwerde erhoben: das Verbot verletze die Kunstfreiheit. Das sieht der 1. Senat in Karlsruhe anders. Die Kunstfreiheit sei zwar ein hohes Verfassungsgut und könne nur von anderen Grundrechtspositionen eingeschränkt werden. Hier überwiege aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ehemaligen Freundin des Autors. Sie sah sich in der Romanfigur „Esra“ erkennbar nachgezeichnet. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen gelte das jedoch nicht für die Mutter der Ex-Freundin, die sich ebenfalls im Werk Billers wieder erkannt hatte.
Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht
Dieser Beschluss ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen den beiden Grundrechten. Für diese hat das Gericht folgende Vorgaben gemacht:
1) Grundsätzlich stellt ein Roman ein Kunstwerk dar. Der Autor, aber auch die Verlage können sich damit auf das Grundrecht der Kunstfreiheit berufen. Um es möglichst umfassend zu gewährleisten, gilt für den Inhalt des Werkes die Vermutung, dass es sich dabei um Fiktion handelt.
2) Nur andere Verfassungsgüter können die Kunstfreiheit einschränken. In Frage kommt eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts; wegen des hohen Wertes der Kunstfreiheit muss allerdings eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegen.
3) Um eine solche festzustellen, wendet das Gericht eine je-desto-Formel an: Je mehr Übereinstimmungen der Roman mit der Wirklichkeit zeigt, desto schwerer ist die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Die Vermutung, die zu Beginn der Prüfung aufgestellte wurde, muss also widerlegt werden. Dabei ist auch von Bedeutung, inwiefern reale Personen hinter den Romanfiguren erkennbar sind:
Da Künstler ihre Inspiration häufig in der Wirklichkeit finden, wird ein sorgfältig recherchierender Kritiker oder Literaturwissenschaftler in vielen Fällen in der Lage sein, Vorbilder für Romanfiguren oder einem Roman zugrundeliegende tatsächliche Begebenheiten zu entschlüsseln. Die Freiheit der Kunst würde zu weit eingeschränkt, wenn eine derartige Entschlüsselungsmöglichkeit bereits zur Annahme einer Erkennbarkeit der als Vorbild dienenden Person führte. Die Identifizierung muss sich vielmehr jedenfalls für den mit den Umständen vertrauten Leser aufdrängen. Das setzt regelmäßig eine hohe Kumulation von Identifizierungsmerkmalen voraus.
4) Besonders schwer wirkt die Beeinträchtigung, wenn der Roman ehrenrührige falsche Tatsachenbehauptungen aufstellt oder Details aus dem Intimleben schildert. Dieses ist nämlich als „Kernbereich“ des Persönlichkeitsrechtes besonders geschützt. Bei solchen Darstellungen muss der Autor auf Fiktionalisierungen zurückgreifen, um dieses Recht zu wahren. Das BVerfG fordert dabei, dass die
Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der „Figur“ objektiviert ist.
Vorrang des Persönlichkeitsrechts
Um die Kunstfreiheit einzuschränken, müssen also zwei Vorraussetzungen erfüllt sein: Eine reale Person ist hinter der Romanfigur erkennbar und die Schilderungen stellen einen schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar. Damit kam das Gericht im Fall der ehemaligen Freundin des Autors zu folgender Entscheidung:
Die eindeutig als Esra erkennbar gemachte Klägerin zu 1) muss aufgrund des überragend bedeutenden Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den Roman nahegelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben. Daher fällt die Abwägung zwischen der Kunstfreiheit des die Verfassungsbeschwerde führenden Verlags und des Persönlichkeitsrechts der Klägerin zu 1) zu deren Gunsten aus.
Keine Einigkeit im Senat
Die Entscheidung fiel jedoch nicht einstimmig: Drei der acht Richter gaben „Abweichende Meinungen“ ab. Sie sehen in den vom Senat aufgestellten Prüfungsmaßstäben eine unzulässige Einschränkung der Kunstfreiheit. Insbesondere das Kriterium der Erkennbarkeit werde der speziellen Kunstform des Romans nicht gerecht. Für sie ist gerade die Verflechtung von Realität und Fiktion kennzeichnend:
Die Erstreckung der Erkennbarkeit ist keine Frage der Betroffenheit, sondern des Ausmaßes der Betroffenheit. (…) Mit solch quantitativem Messen, an denen ein Abgleich des Romans mit der Wirklichkeit vorgenommen werden soll, wird man der qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht.
Kritisiert wird auch, dass Schilderungen aus dem Intimbereich unmittelbar als schwere Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht gewertet werden – das Gericht wende hier die von ihm selbst aufgestellte Vermutung der Fiktion der Handlung nicht an:
Denn ob und wie sich Intimes im Realen abgespielt hat und ob und wie der Autor es gegebenenfalls schon verfremdet hat, kann der Leser nicht erkennen. (…) Ein solches Ansinnen schränkt die Kunstfreiheit in nicht hinnehmbarer Weise ein, denn es führt letztendlich zu einer der Kunst verordneten Tabuisierung des Sexuellen, weil sie von Anlehnungen an die Wirklichkeit lebt und damit immer in der Gefahr steht, dass Personen sich in ihr wiedererkennen und für andere erkennbar sind.
Frühere Entscheidungen des BVerfG
Die Uneinigkeit im Senat bei diesem Thema ist regelrecht historisch: Auch in der Vergangenheit hatte sich das Gericht mit eben dieser Abwägungsfrage zwischen den beiden Grundrechten zu beschäftigen: In dem Grundsatzurteil „Mephisto“ von 1971 verbot das Gericht den Roman von Klaus Mann, weil er die postmortalen Persönlichkeitsrechte (Art. 1 GG) des in der Handlung erkennbar geschilderten Gustav Gründgens verletze. Bei der Abstimmung im Senat herrschte allerdings Stimmengleichheit; auch hier wurden zwei abweichende Voten abgegeben.
Im Jahr 1984 entschied das Verfassungsgericht den Fall „Anachronistischer Zug“. Hier wies es das Urteil gegen die Veranstalter eines politischen Straßentheaters wegen Beleidigung des Politikers Franz Josef Strauß an das vorinstzanzliche Gericht zurück. Die persönliche Ehre sei zwar Teil des Persönlichkeitsrechtes und könne somit prinzipiell die Kunstfreiheit einschränken. Allerdings setze auch die Kunstfreiheit dem Persönlichkeitsrecht Grenzen: Beide Grundrechte müssten gegeneinander abgewogen werden, sodass nur eine schwere Verletzung des einen Rechtes eine Einschränkung des anderen begründen könne.
Die Diskussion hält an
Diese alten Entscheidungen und die Uneinigkeit des Senats im Fall „Esra“ zeigen, wie groß das Spannungsfeld zwischen den beiden Grundrechten ist. Entsprechend ambivalent wird der Beschluss auch in der Presse aufgenommen. Die einen sehen hierin eine nötige Stärkung des Persönlichkeitsrechtes: Autoren dürften nicht unter dem Schutz der Kunstfreiheit mit vergangenen Beziehungen „abrechnen“. Andere beurteilen die Entscheidung aus Karlsruhe als „dunkle Stunde“ für den Kunst- und Kulturbetrieb. Es sei der Beginn einer neuen Art von Zensur.
Zur Pressemitteilung des BVerfG.
(Kein) Ende in Sicht? Streit um Maxim Billers „Esra“ (Telemedicus)