Februar 2007. In der amerikanischen Blogosphäre findet eine Hetzkampagne gegen die Bloggerin Kathy Sierra statt. In verschiedenen Weblogs wird die Community-Expertin zum Ziel von diffamierenden und sexistischen Kommentaren. Die größtenteils anonymen Denunzianten drohen mit Gewalt, es werden gefälschte Porno-Photos von Sierra gezeigt, zuletzt fallen auch Morddrohungen. Die Autorin schließt daraufhin ihr Weblog und zieht weitere Konsequenzen: „Ich habe alle meine öffentlichen Auftritte abgesagt. Ich habe Angst, aus dem Haus zu gehen. Ich werde mich nie wieder fühlen wie zuvor.“
In die anschließende Aufregung hinein veröffentlicht der respektierte Internet-Visionär Tim O´Reilly die Basis-Version eines „Bloggerkodex“. Der „Bloggers Code of Conduct“ stellt allgemeine Regeln zu ethischem Bloggen auf und verbietet so unter anderem anonyme Kommentare, Verletzungen von gewerblichen Schutzrechten und verpflichtet auf Respekt und Menschenwürde. Seit dem wird heiß diskutiert: Braucht die Blogosphäre einen solchen „Kodex“? Wenn ja – wie sollte er aussehen?
In Deutschland ist die rechtliche Situation seit März 2007 eindeutig: Für Weblogs gelten das Telemediengesetz und der sechste Abschnitt des Rundfunkstaatsvertrags. Die Gesetze verpflichten die Weblog-Betreiber auf Wahrheit und Sorgfalt, schreiben ein Trennungsgebot bei Werbung vor und stellen die deutsche Blogosphäre unter die Aufsicht von Staatsbehörden. Diese Entwicklung stößt nicht überall auf Gegenliebe: Viele sehen das Gesetz als Eindringen des Staates in grundrechtlich geschützte Bereiche, sehen Meinungs- und Informationsfreiheit bedroht. Marcus Beckedahl, Internet-Aktivist und Betreiber des Weblogs Netzpolitik.org: „Man kann der Bundesregierung einfach nicht besonders viel Internet-Kompetenz zusprechen. Anstatt einen Innovationsrahmen für neue dynamische Märkte zu schaffen, bewirkt das TMG nur weitere Unsicherheiten.“ Aber auch die Idee eines „Code of Conduct“ für die Blogosphäre sehen viele Blogger mehr als Beschränkung ihrer Freiheit denn als Chance. Peter Turi, Autor von Turi2: „Meiner Meinung nach brauchen die deutschen Blogs, die Bewegung für Partizipation und Bürger-Engagement im Web 2.0, vieles, aber keine verbindlichen Verhaltensregeln.“
Bloggerkodex könnte auch Lösung sein
Dabei muss ein Kodex keine Beschränkung der Freiheit sein, sondern kann auch umgekehrt wirken: Als 1956 der deutschen Presselandschaft eine Beschränkung durch ein „Bundespressegesetz“ drohte, gründeten die Verlegerverbände als Reaktion den Deutschen Presserat. Der reguliert seitdem, größtenteils erfolgreich, die deutsche Presselandschaft. Der Staat hat sich aus dem Bereich ferngehalten, den Presserat als ausreichende Kontrollinstanz akzeptiert.
Die Situation 2007 ist sicher eine andere als 1956. Neben die gedruckten Zeitungen sind Hörfunk- und Fernsehmedien getreten, im Internet publizieren professionelle Journalisten, Semi-Profis und Amateure nebeneinander. Das ermöglicht Informations-Austausch über viele Grenzen hinweg, freie Kommunikation und Vielfalt in zuvor ungeahntem Ausmaß. Aber es hat auch Nachteile, gerade da wo journalistische oder ethische Standards verloren gehen: Kathy Sierra ist, auch wenn ihr Fall für besondere Aufregung sorgte, kein Einzelfall. Rufmordkampagnen sind häufig, Auseinandersetzungen werden oft sehr hart geführt, nicht selten mit schweren Folgen für die Beteiligten. Ist das nun eher ein Grund für einen Kodex oder einer dagegen? Markus Beckedahl von Netzpolitik.org: „Selbstregulierung hat erst mal nichts Verpflichtendes. Es ist eher ein Zeichen dafür, dass es Defizite gibt, die man mit einer Art Kodex oder Selbstverpflichtung etwas reduzieren möchte. Eine Debatte darüber hat auf jeden Fall etwas Bewusstseinschaffendes für die ethischen Fragestellungen rund ums Publizieren. Und das ist was Gutes.“
Kathy Sierra hat die Kampagne gegen sie noch nicht verarbeitet. Aber mehr als die ursprünglichen Angriffe selbst beschäftigen sie nun die Reaktionen darauf: Die Solidaritätsbekundungen, die Presseanfragen, die Diskussion über Tim O´Reillys Code of Conduct. Auf dem Höhepunkt der Aufmerksamkeitswelle verblüffte sie ein weiteres Mal alle Beteiligten: Gemeinsam mit einem ihrer größten Kritiker, dem Blogger Chris Wolfe, den sie kurz zuvor noch selbst mit den Beleidigungen gegen sie in Verbindung gebracht hatte, gab sie eine „gemeinsame Erklärung“ heraus. Im Verlauf der Auseinandersetzung hatten die beiden telefoniert und festgestellt, dass die Differenzen längst nicht so schwerwiegend waren wie erwartet. Kathy Sierra: „Chris und ich waren der Meinung, dass gerade wir beide zeigen konnten, dass wir uns von unserer Wut lösen können, um Gemeinsamkeiten zu finden und voneinander zu lernen. Dass wir vielleicht auch andere davon überzeugen können, eine ruhigere und produktivere Diskussionsweise zu suchen. Wir sollten über solche Dinge reden – nicht immer nur reagieren, gegen-reagieren und über-reagieren.“