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ACTA-Proteste – Was wollen die eigentlich?

Stell‘ dir vor, es ist Demo – und keiner weiß warum.


Erste Reihe der ACTA-Demo in Bonn am 25.2.2012

Wie schon vor zwei Wochen (wir berichteten) wurde auch heute wieder europaweit gegen das Handelsabkommen ACTA demonstriert. Deutschlandweit gingen in ca. 60 Städten die Menschen auf die Straße (Karte). Ich habe mir die Proteste in Bonn angesehen.

Wer hat die Proteste organisiert?

Anonymous und Piratenpartei sind die ersten Verdächtigen, aber das greift zu kurz. Am schnellsten verbreitet hat sich das Thema sicherlich durch die sozialen Netzwerke. Über 100.000 Facebook-Nutzer wurden eingeladen, im Wesentlichen von ihren direkten Bekannten (im FB-Jargon: „Freunde”). Wesentliche Vorbereitungen zu den Demonstrationen waren für jedermann einsehbar im Wiki auf stop-acta.info sowie auf einem Etherpad der Piratenpartei. Das Etherpad ist eine Mischung aus Wiki und Chatroom, eine Plattform zur kollaborativen Erarbeitung von Texten. Aber auch die „Gruppen” auf Facebook dienten zur Koordination und Weiterleitung von Informationen an die Teilnehmer. Im Wesentlichen konnte sich jeder einbringen – eines der Charakteristika des Internets, wie es die Jugendlichen heute kennen. Sicherlich stechen einige Personen und Organisationen aus der anonymen Masse heraus, etwa die Piratenpartei und das Blog Netzpolitik.org. Auch wurde in der Bonner Demonstration der Einfluss einiger lokaler Jugend-Organisationen (BSV, BjB, ver.di Jugend NRW Süd) deutlich. Aber im Großen und Ganzen haben die Benutzer des Internets von sich aus den Gedanken zu einer Kundgebung von Person zu Person weitergetragen – mit einer Geschwindigkeit, wie sie vor wenigen Jahren kaum denkbar gewesen wäre.

Wer demonstriert dort eigentlich?

Ich selbst war heute Beobachter der Abschlusskundgebung der Demonstration in Bonn. Nachdem die Protestler etwa zwei Stunden um die Innenstadt gezogen waren, rückten sie zum Schluss mitten auf den Münsterplatz, einen der größten Plätze in der Innenstadt. Zu sehen waren vor allem sehr junge Menschen, die mit Anonymous-Masken, Schildern und Bannern ihrem Protest Ausdruck verliehen. Von einem Lautsprecherwagen wurden die Demonstranten angerufen: „Sind wir kriminell?“ – „Nein!“, per Handheben wurde abgefragt, wer z.B. einen Facebook-Account habe oder auf YouTube Videos ansehe. Es wurde schnell deutlich, dass es hier um die Lebenswirklichkeit der jungen Menschen ging. Es wurden keine Forderungen nach Abschaffung von Urheberrecht oder geistigem Eigentum laut.

Welche Forderungen geben die Demonstranten an?

Nachdem ich ein paar Fotos gemacht hatte, wurde mir ein Flyer in die Hand gedrückt. Kernthemen waren die Film- und Musikindustrie als Urheber des Abkommens, die Verschärfung der Strafverfolgung und die Verhandlungen im Geheimen. Konkret wurde auf die öffentliche Anhörung in Deutschland Bezug genommen. Weitere Thesen waren, es würde zu einer Vollüberwachung des Datenverkehrs durch die Provider und Internetsperren nach dem Three-Strikes-Modell kommen.


Zwei maskierte Demonstranten

Steckt vielleicht doch mehr dahinter?

Eine inhaltliche Überprüfung der Thesen hält einem Vergleich mit den Buchstaben des mittlerweile veröffentlichten Textes offenbar nicht stand. Allerdings drängte sich mir der Eindruck auf, dass es bei den europaweiten Protesten um mehr geht, als um das ACTA-Abkommen an sich. Es geht auch um Netzsperren, um Providerhaftung, und um das noch im frühen Verhandlungstext existente Three-Strikes-Verfahren. Es geht auch ums Urheberrecht. Aber welcher der Teilnehmer hätte diese Begriffe auch nur gekannt?

Natürlich: Einige der Thesen, die auf der Demo angesprochen wurden, waren Kapitalismuskritik („Sie wollen zusätzliche Milliarden kassieren“). Und doch trifft Heveling den Kern der Sache nicht, wenn er die Debatte auf den Begriff „digitale Maoisten“ reduziert. Denn hier geht es um das gravierende Auseinanderklaffen gesetzlicher Regelungen, die viele Jahrhunderte zurückreichen, und der digitalen Lebenswirklichkeit, in die die jungen Menschen geradezu „hineingeboren“ wurden.

Wie sieht die Lebenswirklichkeit der „Digital Natives“ aus?

Die Menge des verfügbaren Wissens nimmt in unglaublicher Geschwindigkeit zu. Gleichzeitig veralten Informationen immer schneller. Die Kosten für Lagerung und Weitergabe von Kulturgütern gehen gegen Null, und die Möglichkeiten von Urhebern, sich selbst mit den Nutzern in Verbindung zu setzen, suchen in der Geschichte ihresgleichen. Die Festplatte eines MP3-Players könnte in wenigen Jahren ausreichen, die gesamte Musik, die jemals von der Menschheit aufgenommen wurde, in der Hosentasche mitzunehmen. Texte, Bilder, Musik und Videos weiterzugeben ist einfacher als je zuvor. Millionen von Menschen geben ihre Werke kostenlos über das Internet jedem, der sie haben will. In sozialen Netzwerken sind die Beziehungen zwischen Menschen nicht nur abgebildet, sie finden dort statt. Für diese Generation ist die Benutzung des Internets nicht Alternative zum echten Leben, sondern ein Teil davon.


ACTA-Gegner während einer Sitzblockade

Die jüngeren kennen es nicht mehr anders. Als sie den ersten PC angeschaltet haben, war dieser online. Wann war der 30-jährige Krieg? Mal googeln. Wie ging das neue Lied von Lady Gaga? YouTube hat es da. Es gibt keinen Grund mehr, Datenträger anzuhäufen, Fakten auswendig zu lernen, oder eine Bibliothek aufzusuchen. Alles ist sofort da, und das meistens kostenlos. Auch kommerzielle Angebote im Internet bieten ihre Leistung erst einmal kostenlos an, um dann das Bezahlmodell erst später entwickeln. Wie soll in solch einer Welt eine Idee von „geistigem Eigentum” aufkommen? Wie soll ein Unrechtsbewusstsein für das Kopieren von Informationen aufkommen? Wie will man Nutzern Internetsperren vermitteln, die offline zu sein mit körperlicher Amputation gleichsetzen? Mit welcher Begründung will man Werke bis zu 90 Jahre nach dem Tod des Autors unter Verschluss halten?

Was hat das alles zu bedeuten?

Hier geht es nicht um die Ausgestaltung einzelner Gesetze. Hier treffen zwei völlig unterschiedliche Formen von Rechtsverständnis aufeinander. Ich will hier gar nicht bewerten, welches das „richtige“ ist, bin ich doch selbst schon in meiner Kindheit mit Computern in Berührung gekommen. Aber jeder Versuch, das Geschehen in Begriffen herkömmlicher Politik (konservativ/progressiv, Kapitalismus/Kommunismus, Eigentum/Enteignung) zu verstehen greift meiner Meinung nach zu kurz. Wer die heutige Lebenswirklichkeit außer acht lässt, und sich auf die eigene Erfahrung in der analogen Welt verlässt, wird keinen konstruktiven Dialog mit den Protestlern finden. Und wer diesen Dialog umgeht, der wird mit ihnen rechnen müssen, wie heute geschehen.

Wir, die Netz-Kinder: Ein Text von Piotr Czerski bei Zeit online.
Bericht bei Heise Online zu Acta.
Themenseite „Acta” bei Telemedicus.

, Telemedicus v. 25.02.2012, https://tlmd.in/a/2209

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